Sex und Würde

 
Mein Partner möchte in seinem Wesen
Mein Partner möchte in seinem Wesen erkannt werden.
In der Bibel wird Sexualität mit dem Wort ‘erkennen’ beschrieben. Mit diesem unerotischen und unspektakulären Wort meint sie etwas Tiefes. ‘Erkennen’ trifft mich in Mark und Bein, mein Allerinnerstes. Das hat zunächst nichts mit Erotik zu tun. Mein Partner möchte in seinem Wesen erkannt werden. Wer den Schwerpunkt zu früh auf Sexualität legt, hat mittelfristig verloren.

Betritt der Mensch die Welt, so sucht er danach, sein Wesen zu erkennen. Er geht den drei grundlegenden Fragen nach: Wer bin ich? Bin ich angenommen? Was kann ich? Zentrale Anstösse und erste Antworten bekommt er bei Mutter und Vater. Mit diesem inneren Wissen setzt er sich in der vorpubertären Phase mit gleichgeschlechtlichen und gleichaltrigen Freunden auseinander. Er hat ein grosses Verlangen in seinem sich entwickelnden Mannsein unter Männern bzw. als Frau unter Frauen an-‘erkannt’ zu sein, denn Mann-Sein entsteht unter Männern und Frau-Sein unter Frauen.

In der Pubertät kommt die Erotik hinzu. Zunächst oft in Form von Selbstbefriedigung. Der Heranwachsende erkundet darüber seine Sexualität. Er erkennt seine Sexualität und was ihm dabei gefällt oder nicht gefällt. Es würde allerdings ein gewichtiger Teil des Reifeprozesses fehlen, wenn der Heranwachsende in dieser Weise dauerhaft bei sich bleiben würde.

Bange Fragen
Der Weg zum anderen Geschlecht durchläuft häufig viele Stationen und Reifungsschritte. Fragen brechen auf: Wie werden wir vom anderen Geschlecht gesehen, ‘erkannt’? Auch hier geht es uns zunächst um unser Wesen, selbst wenn der Motor die Sexualität sein kann. Finden mich die Mädchen/Jungs cool? Komme ich an? Bin ich angenommen? Finden sie mich hübsch? Können wir in unserer Unterschiedlichkeit zueinander finden?

Das sind bange Fragen. Unter der Oberfläche geht es um ganz tiefe, intime Fragen: Was passiert, wenn ich erkannt bin in meinen Gaben, in meinen Schwächen? Kann ich mich anderen zumuten? Werde ich auch dann geliebt, wenn meine uncoole, verletzte Seite sichtbar wird? Will mich eine Frau/ein Mann wirklich umfassend? Oder will sie/er nur das Äussere, die Sexualität? Bin ich ganz von Interesse, oder stehen nur mein Können, mein Geld, meine Begabungen und mein Heldsein im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit?

Wertschätzung der ganzen Person
 
Mann-Sein entsteht
Wenn in der Bibel das Wort ‘Erkennen’ als Begriff für ‘Sex haben’ gebraucht wird, geht es immer um die ganze Person. Erkannt zu werden ist unsere grosse Sehnsucht und zugleich unsere Angst. ‘Erkennen’ ist der hohe Wertmassstab der Bibel. Der Mensch ist vor dem anderen bloss gestellt – im Positiven wie im Negativen – und darin geliebt und geachtet. So wird die Sexualität, dieser intime Vorgang, ein Bild für die lebensumfassende Intimität zweier Menschen.

Es bedeutet, den anderen in seiner ganzen Person wertzuschätzen. Diese Wertschätzung kann durchaus auch eingefordert werden. Einige Wochen vor unserer Hochzeit hätte ich mir Petting vorstellen können. Meine Braut bat zu warten. Selbstverständlich respektierte ich ihren Wunsch. Als wir einige Monate verheiratet waren, sagte sie mir, dass ich sie damit als Frau geachtet hatte. Sie wollte als Person, als Frau geachtet, begehrt und geliebt werden und nicht einfach um der Sexualität willen. Dies war ein guter Grundwert für unsere Ehe. Dass meine Frau so über sich denkt, und was sie bis heute für sich einfordert, beeindruckt mich.

Würde im Dialog erfahrbar
Würde wird im Dialog mit anderen erfahren und eingefordert. Dazu brauchen wir Auseinandersetzung und Reibungsflächen. Ich möchte Ihnen drei Beispiele nennen, wo dieses lebendige Gegenüber leider gefehlt hat:

Am Kirchentag in Berlin kommt ein schüchterner Junge von ca. 14 Jahren zu mir. Er wirkt tief unglücklich. Es geht um Selbstbefriedigung. Er meint, der einzige Mensch auf dieser Welt zu sein, der sich selber befriedigt. Die Gefühle scheinen ihm zu sagen, dass er ein besonders schlimmer Sünder sei. Er zerbricht beinahe unter dem starken Gesetz.

Ein 17-jähriger Junge schläft ab und zu mit seiner Freundin. Er ist in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen und hat noch wenig reflektiert, was die Sexualität betrifft. Zunächst sagt er, dass es ihn eigentlich wenig kümmert, was in der Bibel über Sexualität steht. Als ich ihn auf die Ängste anspreche, die man beim Sex haben kann, verändern sich die Aussagen um Nuancen. In Coolness und Selbstsicherheit hinein mischen sich nun leisere Töne und etwas Wissendes schwingt nun mit. Am Schluss des Gespräches will er wissen, was die Bibel über Sex aussagt.

Schmerz nach Trennung
Da kommt ein Paar Mitte 20 zur Beratung. Die Beiden sind nicht verheiratet, haben aber Sex miteinander. Eigentlich wollen sie das nicht und fragen mich um Rat. Die Frau sagt: «Ich brauche Sex.» Dies klingt so klar, so unantastbar. Eine Technik weiterzugeben, wie sie Sex in Griff bekommen können, ist für mich zu kurz gedacht.

Es geht um mehr, um dieses ‘Erkannt sein’. Schon nach kurzer Zeit bröckelt ihre Selbstsicherheit. Plötzlich stehen Fragen im Raum. Der Freund ist schwer sexsüchtig. Sie weiss nicht, ob die Beziehung Bestand haben kann. Sie erzählt, dass sie bereits mehrere solcher Beziehungen hinter sich hat und wie bei der Trennung immer auch ein Teil von ihr zerbrochen sei. Der Schmerz wird offensichtlich.

Hinter Coolness verbarrikadiert
 
Zärtlichkeit 2007
In allen drei Beispielen fehlt es den jungen Menschen an klarer und offener Auseinandersetzung. Stattdessen sind sie mit Verboten und Gesetzen eingedeckt. Sie verschliessen sich, ziehen sich auf Standpunkte zurück, verbarrikadieren Ängste hinter Coolness. Ich erlebe, dass Jugendliche nicht nur mit ihrer Sexualität allein gelassen werden; es fehlt ihnen auch das Gegenüber, jemand, der Werte klar darlegen kann und sie hinterfragen lässt. Vielen fehlen Vorbilder, die offen von sich erzählen.

Ich meine, dass Eltern, die ihre eigene sexuelle Vergangenheit nicht reflektiert haben, auch mit ihren Kindern nicht wirklich positiv über Sex reden können. Es bleibt entweder die Freigabe aller Werte oder das Gesetz. Dabei könnten Eltern durchaus auch über ihr Scheitern und Versagen reden und dabei authentisch zum Ausdruck bringen, nach was sie sich eigentlich gesehnt hatten.

Sie haben die grössere Lebensperspektive und denken ganzheitlicher über die Zeit der sprudelnden Hormone hinaus. Im Schulunterricht werden höchstens biologische Zusammenhänge, die Verhütung und Gesundheitsrisiken angesprochen. Wir Christen sollten nicht ebenso einseitig mit einzelnen Bibelversen und Verboten argumentieren, sondern ganzheitlich über die Sehnsucht reden, ‘erkannt’ zu werden. Wer Jugendliche Werte vermittelt, gibt ihnen die Chance, Würde zu erfahren und führt sie in die Ebenbildlichkeit Gottes hinein.

Zur Vertiefung
Wo fühlst Du die Sehnsucht nach Würde, wie sie in der Bibel beschrieben ist?
Wie gestaltest Du Dein ‚Erkannt werden’ in Würde, oder wird es von Deinen Hormonen gestaltet?
Wer darf Dich in deinen Werten hinterfragen?

Zum Autor
Rolf Rietmann studierte von 1987 bis 1991 Theologie auf St. Chrischona, war sieben Jahre als Pastor im Aargau tätig und gehörte von 1998 bis 2000 der Kommunität ‘Christen in der Offensive’ in Deutschland an. Anschliessend arbeitete er bis 2003 bei Markus Hoffmann von ‘wuestenstrom Deutschland’ mit und begleitete Männer und Frauen bei Identitätsstörung, Sexsucht und Missbrauch. Rolf Rietmann ist verheiratet; mit seiner Frau gründete er 2004 ‘wuestenstrom Schweiz’.

Kontakt
www.wuestenstrom.ch
www.liberty4you.ch

wuestenstrom
Postfach 181
8330 Pfäffikon
Tel. 043/497 70 04 (Di, 14:00-17:00 Uhr)

Autor: Rolf Rietmann
Quelle: Panorama Chrischona



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