Trennung und Scheidung: Wie reagieren Freunde und Gemeinde?

 
Divorce
Paare gehen auseinander, lassen sich scheiden. Wie gehen Christen im Umfeld und Gemeinden damit um, ohne selbst Schaden zu nehmen und weitere Verletzungen zuzufügen? Am Samstag, 13. September, findet zu diesem brennenden Thema in Aarau ein Fachtag für Gemeindeverantwortliche, Hauskreisleiter, Berater und Interessierte statt. Livenet sprach mit einem der Hauptreferenten, dem Theologen und Psychotherapeuten Wilfried Veeser.

Der Fachtag „Und es geschieht doch…“ im Theologisch-Diakonischen Seminar Aarau wird von bcb, dem Bildungszentrum für christliche Beratung und Begleitung, Oberägeri, durchgeführt. Der Fokus liegt auf der Gemeinschaft, erläutert Veeser im Gespräch mit Livenet: „Denn das Netzwerk hat seine eigenen Probleme damit, dass zwei, die dazu gehören, plötzlich sagen: Es geht nicht mehr – Schluss, aus.“ Am stärksten wirkt sich eine Scheidung im Pfarrhaus oder im Gemeindevorstand oder bei prominenten ehrenamtlichen Mitarbeitern aus. Laut Wilfried Veeser stellen sich da einige wichtigen Fragen: „Wie leitet eine Gemeinde Menschen an, die davon betroffen sind? Wie schützt sie Betroffene? Wie reagiert das Umfeld?“

Der Fall – und was andere hineinprojizieren
Scheidung passiert – auch in christlichen Kreisen. Am Fachtag geht es nicht um Scheidungsprävention, auch nicht um die angemessene Seelsorge an Paaren in Krisen oder bei der Scheidung. Veeser: „Wir reden vom Krug, der zerbrochen ist.“ Konkret: Was tut nun eine Gemeindeleitung? Wie kann Gemeindegliedern geholfen werden?

Da ist eine Frau in einer schweren Ehesituation: Ihr Mann trinkt oft zuviel und vernachlässigt sie – doch sie fühlt sich an ihr Eheversprechen gebunden. Eine Bekannte hat deutlich geringere Probleme in ihrer Ehe – doch für sie ist die Ehe gescheitert und sie will sich scheiden lassen. „Nun kann es sein, dass die erste Frau, die sich bisher eine Scheidung verboten hat, mit dem Finger auf die zweite zeigt und sich scharf gegen sie stellt. Ohne es zu merken, projiziert sie ihren eigenen Konflikt in das Verhalten jener Frau hinein“, analysiert der erfahrene Ehetherapeut Veeser. In dieser Projektion geschehen Verletzungen, da die erste Frau, aufgrund ihres Bibelverständnisses oder bestimmter Prägungen, der anderen einen alternativen Weg nicht zugestehen kann.

Auf Gefahren achten
Veeser ringt in seiner therapeutischen Arbeit mit Ehepaaren ständig um die Bewahrung und Heilung von Ehebeziehungen. Doch wenn der Krug zerbrochen ist, geht es um Schadensbegrenzung. Veeser nennt ein anderes Beispiel: „Eine Frau, die ein verheirateter Mann besonders attraktiv fand, lässt sich scheiden. Es können Phantasien entstehen; vielleicht hilft er ihr, nähert sich ihr an. Es passiert nichts – aber seine Phantasie ist beflügelt.“ Solche Dynamiken sollten Gemeindeverantwortliche im Blick haben, das Umfeld sensibilisieren und die Frau schützen.

Wer soll wieviel wissen, wie erfahren?
 
Veeser W
Weitere Verletzungen vermeiden: Wilfried Veeser.
Soll ein Paar, das auseinandergeht, allen im Umfeld sagen, wie es dazu gekommen ist? Was rät eine Gemeindeleitung den Betroffenen? Viele Freunde verkraften bekanntlich einen Zerbruch nicht, weil dadurch eigene Themen aktiviert werden können. „Sie beziehen ihre eigenen Themen auf die Betroffenen und können nicht objektiv die Wahrheit hören.“ In einer Gemeinde, in der man eng zusammenlebt, soll man die Begleitung von Betroffenen delegieren, rät Veeser, an Seelsorger, extern oder intern. In einem solchen Rahmen könne das Ganze mit Augenmass besprochen werden. Der Gemeindeleitung legt Veeser in solchen Fällen Neutralität nahe. Denn wie soll sie Partei nehmen und zugleich dem anderen Partner gerecht werden? Urteile führen zu Parteinahmen und provozieren in nahestehenden Familien Risse, weil sich der Mann vielleicht mit dem Mann, seine Frau mit der Frau solidarisiert.

Scheidung – das Schlimmste!?
Am 13. September werden solche Situationen bearbeitet und Lösungen gesucht. Der Fachtag handelt, betont Veeser nochmals, nicht zuerst von Seelsorge an Paaren in der Krise, auch nicht von Fragen um Wiederverheiratung. Der Fokus liegt auf dem verantwortlichen Umgang in der Gemeinde mit solchen Situationen – damit die Gemeinde als ganzes nicht verwirrt, nachhaltig irritiert oder gelähmt wird.

Unverlierbare Würde
In vielen Fällen verlässt ein Partner des Paares, das sich trennt, die Gemeinde. Soll diese sich darauf konzentrieren, wenigstens eines von beiden Mitgliedern zu umsorgen? Ja, meint Veeser – wenn ihr dies mit dem Gesamtklima gelingt, von der Verkündigung über die Gebete im Gottesdienst bis zur Seelsorge. „Wenn wenigstens einer der beiden Betroffenen in der Gemeinde bleiben kann, als würdiges Menschenkind und gleichrangiges Geschwister vor dem Herrn, dann hat eine Gemeinde enorm viel geleistet.“ Der Theologe warnt davor, durch schiefe Bibelauslegungen einzelnen Sünden ein besonderes, erdrückendes Gewicht zu geben.

Der Zeigefinger im Kopf
Veeser weiss von Hauskreisen, die auseinanderbrachen, weil die Einzelnen sich mit ihr oder ihm als Betroffene solidarisierten. Dies weil man immer nach der Ursache der Schuld sucht. An diesem Punkt ist Veeser kategorisch: „Eine einseitige Schuldzuordnungsmöglichkeit gibt es nicht. In Beziehungen gilt: Man wird miteinander schuldig – selbst wenn es nach aussen hin ein klares Opfer zu geben scheint.“ Der Mann hat eine Affäre mit seiner Sekretärin; doch wie kam es dazu? Weil Konflikte aus anderen Lebensbereichen nicht geklärt sind und die Intimität in der Ehe beeinträchtigen, oder die Frau kaum mehr Interesse an Sexualität zeigt, oder unklare Familienstrukturen den Raum für Erotik beschneiden, oder...? Der christlichen Gemeinde muss es darum gehen, die Verantwortung beider Partner für ihre Ehe wahrzunehmen und Schuld nicht einseitig zuzuweisen.

Gar nicht von Schuld reden?
 
Wilfried Veeser will
Wilfried Veeser will Gemeindeverantwortliche und Hauskreisleiter sensibilieren.
Nun können auch Christen darauf verfallen, gar nicht mehr von Schuld zu reden – wie es in der Gesellschaft üblich ist. “Die Versuchung ist gross, dass man nicht mehr von Schuld redet, sondern nur noch alles ‚versteht‘“, räumt Veeser ein.

Doch ein Zusammenleben in Nähebeziehungen, ohne aneinander schuldig zu werden, gibt es nicht. Dies gilt es auszuhalten. Je mehr Einsicht über eigene Schuld vorhanden ist, desto barmherziger wird man einem Scheidungsbetroffnen gegenüber. Einen der Betroffenen besonders schuldig zu sprechen und ihn quasi in die Hölle zu schicken, wird der Lebensrealität nicht gerecht. "Wenn wir einen ‚richtig‘ Schuldigen brauchen, um unser Gewissen zu beruhigen und uns vom ‚Sünder‘ abzuheben, dann wird’s gefährlich. Dann machen wir uns schuldig an der Ausgrenzung des Betroffenen und an seinem Leiden."

Wenn der Schleier des Schweigens zerreisst
Allem Reden von Heiligung zum Trotz gibt es viel Schuld und Sünde in der Gemeinde. Aber, so Veeser, sie bleibt vielfach hinter der Haustüre verborgen, findet in der Stube oder im Bett statt. Solche verborgene Schuld kann auch eine Gemeindeleitung nicht verhindern und im Grunde kann sie auch nichts dagegen machen. Schuld, die jedoch wie bei Scheidungsfällen öffentlich wird, braucht auch einen öffentlichen Umgang – in solchen Situationen sind Gemeindeleitungen oft überfordert.

Der Fachtag will Gemeindeverantwortlichen, Seelsorgern Lebensberatern, Hauskreisleitern und Betroffenen helfen, wie sie mit öffentlich werdender Schuld qualifiziert umgehen können. Nach Inputs gibt es Workshops und Gruppengespräche, in denen einzelne Fälle erörtert werden können. „Lehrbuchmässige Lösungen geben wir nicht vor; die Gemeinden müssen sie selbst erarbeiten.“

Flyer zum Fachtag vom 13. September in Aarau
Anmeldung für den Fachtag
Homepage von Wilfried Veeser
Fachartikel von Wilfried Veeser zu Scheidung und ihren Folgen für Gemeinden

Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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