Sekten – oder: Die Sehnsucht des Menschen nach mehr

 
Sekten - oder: Sehnsucht nach mehr
Im deutschsprachigen Raum gibt es heute immerhin über 600 Sekten oder sektenhafte Sondergruppen. Die Seelen des modernen Menschen sind ausgetrocknet und suchen nach Nahrung und Halt.

Wenn wir in der Geschichte ein Jahrhundert zurückgehen, entdecken wir eine Zeit, die ebenfalls sehr offen war für neue religiöse Strömungen. Es ist das 19. Jahrhundert. Die vorausgegangene Zeit Aufklärung hatte in der Kirche zu einer rationalistischen und seelenlosen Theologie geführt, die die Gotteshäuser mehr leerte als füllte.

Das brachte es mit sich, dass sich viele Menschen aufkommenden Geheimlehren und einem östlichen Gedankengut zuwandten, das immer bekannter wurde. Die „klassische" Sektenszene stammt aus dieser Zeit: die Theosophie und Anthroposophie, die Zeugen Jehovas, die Mormonen und andere.

Diese erste „esoterische Welle" findet seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gleichsam eine Neuauflage". Die Bedingungen sind ähnlich wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts: auf der einen Seite einr dürrer Materialismus in der Gesellschaft und eine Kirche, die die Menschen nicht mehr erreicht, auf der anderen Seite die Suche der Menschen nach irgendwelchen Formen von Spiritualität.

Freie Religiosität
Es begann in den siebziger Jahren innerhalb der Hippiebewegung mit den aufkommenden „Jugendsekten" (Bhagwan, Transzendentale Meditation, Vereinigungskirche Muns, Hare Krishna und andere). Heute haben wir eine Renaissance des Okkulten und Mystischen. Wir haben keine tiefe, sinnsuchende, sondern eine freie Religiosität, die zum Beispiel in Formen wie der New-Age-Bewegung ihren Niederschlag gefunden hat.

Der individualistische Bürger von heute stellt sich seine Religion selber zusammen. Da haben christliche Gedanken, Reinkarnation (hinduistische Wiedergeburtslehre) , okkulte Lehren und eine „Heilkraft von Edelsteinen" nebeneinander gut Platz. Die Offenheit für das Geheimnisvoll-Übersinnliche ist so gross wie nie.

Abschied vom Materialismus
Was sind die Gründe für die wiedererwachende Religiosität und für den Hang zum Esoterischen?

  • Es gibt ein esoterisches Grundinteresse in unserer Gesellschaft und im Menschen allgemein. Das rationalistische, ganz auf die Materie bauende Denken wandelt sich zu einem Denken, das Übersinnliches einschliesst. Es ist ein unspezifischer, stiller Wechsel des Weltbildes. Der vielgehörte Vorwurf: „Ich glaube nur an das, was ich sehe" ist bedeutungslos geworden.

  • Der Materialismus als Ideologie hat ausgedient. Der Mensch, auf sich selbst reduziert, ist sich zu wenig. Dieses Vakuum zeigt sich jetzt als Suche nach dem transzendenten Gegenüber.

  • Soziologen bezeichneten unsere Zeit als „die neue Unübersichtlichkeit" einer pluralistischen Welt. In dieser Vielfalt der Meinungen und Richtungen suchen besonders labile Menschen nach einfachen schlüssigen Antworten. Sekten mit ihrem geschlossenen Weltbild und einem Schwarz-Weiss-Denken bieten sie an.

  • Unsere unglaubwürdig gewordene Christenheit bleibt Fragen und Leben schuldig. Die Kirchen und Freikirchen sind nicht imstande, das emotionale und religiöse Vakuum vieler Zeitgenossen zu füllen.

  • Immer mehr „gesellschaftsgeschädigte" Menschen und labile Charaktere bilden die Basis, aus der Sekten ihre Leute rekrutieren. Sie bieten Heimat für Heimatlose. Psychogruppen jeder Couleur boomen.

Versuch einer Zuordnung
Wie können wir die Gruppierungen und Richtungen einordnen?

  1. Etablierte Sekten
    Das sind christliche oder esoterische Gruppen, die meist im letzten Jahrhundert entstanden sind und sogar im bürgerlichen Leben eine recht grosse Akzeptanz besitzen, so zum Beispiel die Anthroposophen, deren Waldorfschulen als Aushängeschild in der Bevölkerung breite Akzeptanz erlangt haben. Auch die Zeugen Jehovas, die sich in Berlin sogar als Körperschaft öffentlichen Rechts etabliert wissen wollen, gehören in diese Kategorie, wie auch die Mormonen oder die Christliche Wissenschaft.

  2. Neuoffenbarer
    Das sind Sekten, welche aufgrund neuer Offenbarungen der Gründergestalten, die meist noch leben, gebildet wurden. An der Spitze steht in der Regel ein „charismatischer" Führer, der die Gruppierung straff leitet. Sie machen oft laut von sich hören und geraten in ihrer Radikalität, die sie an den Rand des Legalen führt, oft auch in Konflikt mit den Behörden. Beispiele sind «Fiat Lux» und «Universelles Leben».

  3. Ideologische Gruppen
    Das sind sogenannte Polit- oder Psychosekten wie Scientology, die zwar ähnliche Strukturen wie andere Sekten aufweisen, jedoch meist keine religiösen Inhalte vertreten. So will Scientology die Persönlichkeit des Menschen erweitern. Den Werbespruch „Erweitere dein Potential!" mit Einstein hat fast jeder schon in Zeitungen entdeckt. Scientology bezeichnet sich allerdings bewusst als Kirche, weil sie unbedingt den Status einer „steuerbefreiten" Religionsgemeinschaft halten will.
    In der Schweiz hat die Organisation dabei einen Erfolg erzielt: Das Bundesamt für Adjutantur hat ihren „Geistlichen" - analog zu den Landes- und Freikirchen - die Befreiung vom Militärdienst gewährt. Kritiker werfen Scientology jedoch vor, mit getarnten Geschäftsbetrieben zu arbeiten und massiv überteuerte Psycho-Kurse zu verkaufen.

  4. Jugendsekten
    Man nennt sie Jugendsekten, weil sie in den Sechziger und Siebziger Jahren entstanden sind und als Zielgruppe vornehmlich junge Leute ansprachen. Die Hippie-Kultur war offen für fernöstliche Religionen, und so wurden Gurus sozusagen importiert. Sie waren die Ideale vieler jungen Leute.
    Meist stellen diese Sekten ein Religionsgemisch dar. Fernöstliches ist gut abgemischt und auf die westlichen Bedürfnissen stressgeplagter moderner Zeitgenossen zugeschnitten. Hare Krishna, Mun-Sekte, TM und Bhagwan gelten als typische Vertreter. Die Jugendsekten führen immer mehr ein Schattendasein, weil sie durch ihre totalitären Lebensstrukturen in Verruf geraten sind. Die engen „Kommunen", wie sie in der Hippiegeneration üblich waren, sind heute „out".

  5. New-Age und Esoterik
    Man kann dies eigentlich nicht als feste Gruppierung ansehen, weil das Gedankengut fast überall mitschwingt. Wir leben in einer Zeit, in der das Bewusstsein für esoterisches Gedankengut sehr wach ist und viele Menschen sich ihre eigenen Glaubensvorstellungen entwerfen - die sogenannte „Patchwork-Religiosität".

Anmerkungen

  1. Dies stellt die „Scientology-Kirche" wohl in Abrede, indem sie sich bemüht, die öffentliche Anerkennung als „Kirche" zu erhalten, was ihr außer in den USA, Australien und Südafrika zum Beispiel auch in Schweden gelungen ist.

  2. Vertreter von Scientology bestreiten das.

 

Bearbeitung: Lebenshilfe-net.ch

Autor: Horst Scharfenberg
Quelle: Chrischona Magazin

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