lebenshilfe-net.ch - 19.04.2024, 23:27
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Dargebotene Hand: Wut, Ohnmacht und Sehnsucht nach Heil

 
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Es ist kurz nach 23 Uhr. Vera* hat soeben ihre Abendschicht als freiwillige Mitarbeiterin der Dargebotenen Hand Aargau/Solothurn-Ost beendet und wirft Worte in den Raum: «Wut und Ohnmacht. Sehnsucht nach Heil. Einsamkeit, Verletzlichkeit...und auch ein Danke fürs Zuhören. Die Gefühle der Anrufenden überbordeten heute. Ich brauche etwa fünf Minuten, dann bin ich hellwach und wieder da.»

Vor zehn Jahren entschied sich die Mutter von mittlerweile 20-jährigen Zwillingen für die freiwillige Mitarbeit bei der Dargebotenen Hand - Telefon 143 und wurde schon während der Ausbildung gehörig überrascht von «den Themen, deren Tiefe und allem, was die Teilnehmenden an Lebenserfahrung, Lebensfreude und Lebenssinn mitbrachten». Noch immer freut sich Vera auf jede einzelne Schicht, die sie so bewusst angeht wie abschliesst.

Kleider, Kerzen, Klänge
«Ich wähle meine Garderobe vor jedem Einsatz sorgfältig aus, überlege, was mir gerade gut tut.» Dann fährt sie nach Aarau. In den Räumen der von hier aus seit 1960 tätigen Telefonberatung nimmt sie sich Zeit zum Ankommen. Am Arbeitsplatz zündet sie stets eine Kerze an. Fünf bis acht Stunden, je nach Tages- oder Nachtzeit, dauert eine Schicht. Heute war Vera von 18 bis 23 Uhr im Dienst. Mal einen Schluck Kaffee oder Tee, ein paar Zeilen in einem Buch oder Recherchieren im Internet zu gefragten Themen, auch das erlaubt der Einsatz.

«Ihn dann gut zu beenden, ist für mich enorm wichtig», sagt die 53-Jährige. Das heisst, sie bleibt noch etwas vor Ort, geht in Gedanken den Einsatz abermals durch, tauscht sich mit einer anderen Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter aus. Schliesslich steigt sie in ihr Auto und fährt heimwärts - manchmal laut singend, um Distanz zum Gehörten zu gewinnen.

 
Telefon
Mitgeteilte ist geteilte Not

«Sehr vielseitig, spannend, extrem dicht», so beschreibt Vera das Geschehen am Telefon der Dargebotenen Hand. «Hinech», fährt sie in ihrem sympathischen Dialekt fort, «also heute Abend wollte eine Frau, die von ihrem Mann immer belogen wird, wissen, was wahr ist.» Eine andere Person suchte nach einer Fachstelle, die ihr nach einem Auslandaufenthalt helfen kann, privat wie beruflich in der Schweiz wieder Fuss zu fassen. Ein recht aggressiver Anruf kam von jemandem, der von Persönlichkeitsstörungen betroffen ist. «Suizid, Sterben, Tod, diese Themen habe ich oft in meiner Schicht. Aber heute für einmal nicht.»

«Es ist nicht selbstverständlich, dass man bei der 143 anruft. Es braucht Mut, diese Nummer zu wählen. Ich bringe den Anrufenden neben meinem Fachwissen auch Wertschätzung, ein offenes Ohr und ein offenes Herz entgegen.» Oft hört Vera: «Ich brauche nur einen Satz von Ihnen.»

Sie konkretisiert: «Beim Reden stelle ich primär Fragen, denn eine Frage lässt alles zu. Dann geht es darum wahrzunehmen, was die andere Person nicht sagt. Ich reagiere auf ihr Schweigen, auf Veränderungen in ihrer Atmung, auf ihr Weinen in allen Formen, all das sind ebenfalls Worte.» Vera ergänzt: «Menschen finden durch das Gespräch zu ihren inneren Kräften zurück, nicht selten zu einem erlösenden Lachen. Das alles nimmt ihnen nicht die Not, aber ermöglicht ihnen, den nächsten Schritt im Leben zu wagen.»

Vom Leben berührt sein
Natürlich wird die Nummer 143 auch aus Jux gewählt, oder es gibt Themen, bei denen die Beratenden schlicht «stopp» sagen müssen. Hauptsächlich geht es bei den schweizweit jährlich über 200.000 Kontakten mit Telefon 143 oder www.143.ch um Sehnsüchte und die Sinnfrage. Was bringt mir das Leben noch? Wer bin ich eigentlich? Wie überlebe ich in dieser Welt?

Vera: «Menschen wollen wahr, ernst genommen werden, so sein, wie sie jetzt sind. Für mich ist daher das Ganz-im-Moment-sein und zuhören oft wichtiger als reden. Das heisst, ich halte die Not des Anderen aus, übernehme sie aber nicht.» Gerüstet und gestärkt für dieses Engagement wurde die freiwillige Mitarbeiterin der Dargebotenen Hand durch die mehrmonatige Ausbildung mit Praktikum und wohl ebenso entscheidend durch ihre persönliche Einstellung, die sie so formuliert: «Man muss selber vom Menschsein fasziniert und vom Leben berührt sein.»

Vera* (Name der Redaktion bekannt)

Telefon 143 - die Geschichte
Chad Varah, Pfarrer einer anglikanischen Gemeinde mitten in London, liess 1954 ein Inserat erscheinen: «Bevor Sie sich das Leben nehmen, rufen Sie mich an!» Es drängte ihn, etwas gegen die hohe Zahl von Suiziden zu unternehmen. Das war der Start zur heute fast weltweit tätigen Organisation der Telefonberatung.

Kaum vier Jahre später wurde in Zürich unter dem Namen «Dargebotene Hand» die erste Telefonseelsorgestelle der Schweiz eröffnet. Auch dank finanzieller Unterstützung des Migros-Gründers Gottlieb Duttweiler und eines nicht genannt sein wollenden Geschäftsmannes aus Zürich. Zur Namensgebung eine kleine Anekdote, wonach Gottlieb Duttweiler damals sagte: «Und jetzt müssen wir dem Kind noch einen Namen geben.» Nach einigem Hin und Her streckte er über den Tisch seine offene Hand entgegen mit der Bemerkung, «was meinen Sie zu der "dargebotenen Hand"?»

Bis 1975 wurden in der Schweiz zwölf Regionalstellen eingerichtet. Im Jahr 2006 verzeichnete Telefon 143 und www.143.ch über 230.000 Kontakte. Rund zwei Drittel der Hilfesuchenden sind Frauen. Ohne die 600 freiwillig Mitarbeitenden gäbe es die Dargebotene Hand nicht.

 

Autorin: Carmen Frei


Quelle: KIPA
Datum: 09.07.2010

 
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