Leidenschaft leben

	Dr. Ulrich Gieskus: "Paare, die um Missverständnisse wissen, sind offener für Kommunikation."

Lebenshilfe-net.ch:
Sie sagten neulich in einem Vortrag, dass Missverständnisse die Ehe erfrischen. Wie ist das zu verstehen?

Dr. Ulrich Giesekus:
Paare, die wissen, dass sie sich missverstehen könnten, sind offener in der Kommunikation. Denn sie lassen sich von ihrem Partner immer wieder überraschen. Der Satz: „Du brauchst mir nichts zu sagen. Ich weiss genau, was du meinst" ist wohl der grösste Gesprächskiller in einer Beziehung. Ich brauche auch nach 25 Jahren Ehe keine Schubladen, sondern kann meinen Partner immer wieder neu erleben. Jeder Mensch verändert sich, und so entdeckt man immer wieder Neues an seinem Partner.

Welche anderen Fallen drohen einer Ehe?
Wenn man sich keine Freiräume schafft und immer aneinander klebt. Das schafft Eifersucht und schlechte Konstellationen. Klebt man ständig zusammen, dann ist der Ehemann eifersüchtig, wenn seine Frau mal eine Freundin trifft, oder die Frau muss ihrem Mann überallhin folgen, weil sie ihm nicht traut.

Jeder Partner sollte seine persönlichen Bereiche pflegen, damit dann wieder ein Bedürfnis nach Nähe entsteht und sie nicht zur Pflicht wird. Das regt den Austausch unter den Eheleuten an. Eine Ehe muss atmen können: ein- und ausatmen, loslassen und umarmen.

Wie wichtig ist die Leidenschaft in einer Beziehung?
Leidenschaft hat natürlich mit Erotik, Sexualität, Nähe und Zärtlichkeit zu tun. Doch erstaunlicherweise spielen diese sexuellen Faktoren für das Glück einer Ehe eine eher untergeordnete Rolle. Leidenschaft geht weit darüber hinaus: Sie hat mit Werten zu tun, mit dem Gefühl und der Einstellung. So verstanden, ist sie ein sehr wichtiger Aspekt einer Beziehung.

Vernachlässigen viele Paare die Leidenschaft?
In meiner Praxis sehe ich natürlich in erster Linie Paare, die genau deswegen zu mir kommen. Was „normale" Paare tun, weiss ich auch nur aus Büchern. Ich würde mal sagen, viele Paare sind nicht aufmerksam genug, um die Leidenschaft in der Ehe zu pflegen.

Ja, wie macht man das?
Die Partner sollten sich weigern, nur nebeneinander herzuleben. Positiv ausgedrückt: Man sollte neugierig bleiben, um den anderen immer neu kennenzulernen, zu erforschen, zu entdecken. Das kann auch dazu führen, dass man einander hin und wieder zu nah kommt und streitet. Aber lieber ein Streit, der etwas klärt, als gar kein Gespräch und ein langweiliges Nebeneinander.

Kommunikation und Kompromissbereitschaft dürfen in einer Ehe nicht fehlen. Die persönlichen Freiräume und die Leidenschaft tragen dazu bei, dass eine Ehe funktioniert.

Autor: Iris Muhl
Quelle: Lebenshilfe-net.ch