lebenshilfe-net.ch - 29.03.2024, 10:07
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Der andere leidet mit

 
trauer, verschlossenheit
Wo hört die Anteilnahme auf und fängt das Manipuliertwerden an? Psychosomatisch Kranke entwickeln auch Macht - unbewußte Macht. Umgekehrt ist die Art und Weise, wie die Umgebung darauf reagiert, auch ein Spiegel der bisherigen Beziehung.

Jeder Mensch sehnt sich nach Verständnis, Trost, Schutz und Geborgenheit. Mit einer Krankheit signalisiert man diese Bedürfnisse noch mehr; das ist legitim. Gemeinsame Zeiten des Leidens können eine Beziehung stärken und vertiefen. Wer seine Ängste oder seinen Unmut nicht auszudrückt, nur weil er den andern nicht verletzen will, kann sich innerlich verspannen. Magenschmerzen, Nackenverspannungen oder Herzstechen sind die Folge.

Problematisch wird es aber, wenn man auf diese Weise etwas erreichen will, was man im normalen Gespräch nicht erhält. Die Krankheit kann zu einem wirksamen Instrument werden, um Beziehungen zu gestalten - sei es zu anderen Menschen, zur Arbeit oder gar zu sich selbst.

Ein Beispiel
Meine Mutter ist schon länger kränklich. Seit dem Tod meines Bruders klagt sie immer wieder über Herzschmerzen. Der Arzt konnte nichts finden. Oft liegt sie dann den ganzen Tag im Bett und erwartet, dass wir den Haushalt machen.

Ich bin hin und her gerissen: Einerseits tut sie mir leid. Aber manchmal bin ich auch wütend. Wenn ich mit meinem Freund ausgehen will, hat sie oft einen Herzanfall. Manchmal habe ich schon abgesagt, um sie nicht im Stich zu lassen und mir nachher keine Vorwürfe machen zu müssen. Sie gibt mir oft doppelte Botschaften: «Geh du nur und amüsier dich. Ich bin ja nicht mehr so wichtig für dich. Du musst doch glücklich werden!»

Wer die Krankenrolle zur Gestaltung seiner Beziehungen benutzt, verliert letztlich mehr als er gewinnt. Umgekehrt kann so ein Verhalten auch auf eine mangelnde Nähe in der Beziehung hinweisen: dem gesunden Menschen wird nur ein Bruchteil der Aufmerksamkeit zuteil, die er als kranker beziehen darf.

Beiderlei Schuldgefühle
Chronische Krankheiten bewirken oft Schuldgefühle auf beiden Seiten. Die kranke Person hat Schuldgefühle, weil sie den andern „ständig zur Last fällt" und es ihr «nicht gelingt», gesund zu sein. Die Angehörigen oder Helfer haben Schuldgefühle, weil sie mancher inneren Regung schämen: Neid, weil die kranke Person immer im Mittelpunkt steht, Wut, weil sie sich nicht helfen lassen will; Verachtung und Enttäuschung, wenn der oder die Betreffende nicht mehr so dynamisch ist wie früher.

Ein Wort der Vorsicht
Setzen also psychosomatisch Kranke ihre Symptome bewusst ein, «um etwas zu erreichen»? Nein; wenn man ihnen das unterstellte, würde man ihnen grosses Unrecht tun. Die Symptome sind das Resultat vielfältiger äusserer und innerer Stressfaktoren. Doch die unmittelbare Umgebung kann dem meist nicht gegensteuern. Arbeitskollegen, Angehörige, Kinder und Partner sind Mit-Betroffene. Je enger der Kontakt zum Kranken ist, desto stärker ist das Mit-Leiden.


Literatur:
H. Lieb & A. von Pein: Der kranke Gesunde. Trias.

Autor: Dr. med. Samuel Pfeifer
Quelle: seminare-ps.net

 
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