lebenshilfe-net.ch - 29.03.2024, 14:22
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Der Ausstieg aus einer Sekte

 
Ausstieg aus einer Sekte
Jahre in einer vereinnahmenden oder totalitären Gemeinschaft hinterlassen ihre Spuren. Es kann lange dauern, bis sich der Betreffende von solchen Verstrickung gelöst hat. Meistens braucht er dazu auch äussere Hilfe.

Der Ausstieg aus einer sektenähnlichen Gemeinschaft ist oft ein Kraftakt. Er ist mit vielen Emotionen verbunden und erfordert eine Neuorientierung. Bestehende Kontakte werden abgebrochen, neue müssen oft erst wieder aufgebaut werden.

Margaret Thaler Singer ist Professorin für Psychiatrie an der University of California in San Francisco. Sie hat sich intensiv mit den Schwierigkeiten von Menschen befasst, die sich von einer sektiererischen Gruppe getrennt haben und sich nun innerlich davon lösen müssen.* Sie hat Diskussionsgruppen mit ehemaligen Aussteigern gebildet und die Resultate ausgewertet. Im Folgenden lesen Sie eine Zusammenfassung.

Schwierige Umstellung
Aussteiger berichten, dass sie sechs bis acht Monate Zeit brauchen, um ihr Leben wieder zu ordnen und ihre eigenen Fähigkeiten neu zu entdecken. Sie müssen Abstand zu ihren widersprüchlichen Gefühlen bekommen. Oft stellen sie fest, dass durch den Sektenbeitritt Probleme aufgeschoben worden sind. Jetzt müssen sie neu angepackt werden.

Depressionen
Sektenähnliche Gemeinschaften bieten ihren Mitgliedern das Gefühl, „sinnvoll" zu leben: 24 Stunden sind von kultischen Ritualen, Arbeit, Gottesdienst und Gemeinschaftsleben ausgefüllt. Wer eine Sekte wieder verlässt, den überkommt darum meistens ein Gefühl absoluter Sinnlosigkeit. Viele haben auch den Eindruck, sie hätten Jahre ihre Lebens verloren und vieles verpasst. Sie müssen ihre Unschuld und ihre Selbstachtung zurückgewinnen.

 
Ausstieg
Einsamkeit

Wer eine Sekte verlässt, der lässt auch viele Freunde zurück, eine Gemeinschaft mit kollektiven Interessen, die Vertrautheit und Intimität gemeinsamen Erlebens. In einer verständnislosen oder als argwöhnisch empfundenen Weit muss er sich jetzt neue Freunde suchen. Oft wurden auch frühere sexuelle Probleme unterdrückt; manche wurden in der Sekte auch massiv sexuell missbraucht. Nun muss der richtige Umgang mit der eigenen Geschlechtlichkeit entwickelt werden. Andere müssen neu lernen, den Tag zu gestalten und zu strukturieren.

Veränderter Bewusstseinszustand
Nach dem ersten Besuch im Domizil der Sekte - dem „Ashram", „unserem Landhaus", der „Familie", dem „Center" - und nach der Aufnahme werden die Neuankömmlinge in einen langen Zyklus von Vorträgen eingespannt. Diese bestehen aus hypnotischen Metaphern und ekstatischen Gedanken und stundenlangem Singen in halbwachem Zustand. Hinzu kommen Liedern und Spiele, die die Aufmerksamkeit fesseln, und nicht zuletzt aus Meditationen.

Diese Erfahrungen und Muster prägen sich tief ein. Auch nach dem Verlassen der Sekte geraten viele unter bestimmten Bedingungen wieder in die eingeübten tranceähnlichen Zustände: etwa bei Stress, bei einem Konflikt, in einem depressiven Tief oder wenn bestimmte Worte oder Ideen wieder auftauchen. Die Ehemaligen haben dann Angst, sie könnten dieses Abgleiten nie mehr unter Kontrolle bringen.

Nicht mehr denken können
Die meisten Sektenaussteiger sind weder dumm noch ausgesprochen verwirrt. Trotzdem berichten sie von länger anhaltenden Wahrnehmungsstörungen und Veränderungen des Denkens. In der Gruppe hatte man sie dazu angehalten, das kritische Denken abzuschalten und sich ganz dem Meister zu öffnen. Sie wurden aufgefordert: „Zweifle nicht, sei nicht negativ." Jetzt müssen sie diese Selbständigkeit erst wieder zurückgewinnen. Viele beginnen mit einfachen Arbeiten, bis ihr Gehirn langsam wieder funktioniert.

Angst vor der Gruppe
Man lässt sie nie ohne Widerstand gehen. Von relativ harmlosen Belästigungen bis hin zu Gewaltanwendungen reichen die Bemühungen, ausgetretene Mitglieder wieder zurückzubringen.

Einige, die es trotzdem geschafft haben, erzählen, wie man sie gewarnt hat vor der ewigen Verdammnis für sich selbst, ihre Vorfahren und ihre Kinder. Solche Einschüchterungen bleiben oft in der Seele haften, denn viele Aussteiger behalten einen Rest an Glauben an die Sekte.

Andere machen sich Sorgen, wie sie sich bei zufälligen Begegnungen mit ihren alten „Brüdern" und „Schwestern" verhalten sollen. Sie rechnen damit, dass ihnen dann Schuldgefühle über das Aussteigen wieder hochkommen und die anderen ihr jetziges Leben verdammen.

 
Ausstieg aus einer Sekte
Der sogenannte Aquarium-Effekt

Belastend wirkt für ehemalige Sektenmitglieder auch der Umstanbd, dass ihre Familie und Freunde ständig in Alarmbereitschaft sind. Sie fürchten, dass schon kleinste Anzeichen im täglichen Leben sie in die Sekte zurücktreiben könnten: Tagträume, geistige Abwesenheit, ein zeitweise veränderter Bewusstseinszustand und ein positiv gefärbtes Gespräch über die Zeit in der Sekte.

Auch die Ex-Mitglieder selber merken diese Gefahr, aber weder sie noch ihre wohlmeinende Umgebung kann darüber angemessen reden. Die Angehörigen können nicht verstehen, dass das frühere Sektenmitglied auch positive Erfahrungen in der Gruppe gemacht hatte.

Verworrener Altruismus
Viele dieser jungen Leute wollen nach dem Austritt aus der Gruppe Wege finden, um Nächstenliebe zu praktizieren, aber ohne in einer anderen manipulierenden Gruppe nur wieder zu einer Schachfigur zu werden. Aber sie haben das Bedürfnis, sich zu engagieren und sich gemeinsam mit anderen für ein diesmal wirklich gutes Ziel einzusetzen.

Verlorenes Elitebewusstsein
„Sie bringen dich so weit, dass du glaubst, nur sie allein wissen, wie die Weit zu reiten sei", erinnert sich ein Mitglied. „Du glaubst, du gehörst zur Vorhut der Geschichte. - Du wurdest aus der anonymen Masse auserwählt, um dem Messias beizustehen. - Als Erwählter stehst du ausserhalb des Gesetzes. - Schliesslich glaubst du selbst in aller Demut und Ekstase, du bist für Gott, die Geschichte und die Zukunft wertvoller als andere Menschen."

Mit dem Austritt aus der Sekte endet auch das Gefühl jenes Auserwähltseins. Diese Erfahrung gehört offenbar zu den bittersten Ernüchterungen.

 
Ausstieg aus einer Sekte
Eine Gesprächstherapie kann helfen, die Gedanken zu befreien und das Erlebte zu verarbeiten.
Voraussetzungen für Therapeuten

Wer einem Aussteiger helfen will, muss eine gewisse Kenntnis des Sektenprogramms haben, damit er das Ex-Mitglied überhaupt verstehen kann. Auch sollte man Techniken zur Verhaltensänderung beschreiben können. Viele Therapeuten machen den Fehler und übergehen den Erfahrungsschatz der Sektenmitglieder. Sie konzentrieren sich stattdessen auf langfristige Persöhnlichkeitsmerkmale. Das behindert das Gespräch mit dem Klienten jedoch massiv oder macht es gänzlich unmöglich.

Viele Aussteiger fürchten, sie könnten nie wieder normal leben. Die meisten Betroffenen aus den Diskussionsgruppen von Frau Thaler Singer haben aber andere Erfahrungen gemacht und sind wieder im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten. Sie fühlen sich frei und sind wieder unabhängig. Diese Tatsache kann Neu-Aussteiger sehr ermutigen.

Eine entscheidende Hilfe kann für Aussteiger sein, wenn sie sich einer gesunden tragenden Gruppe anschließen, die keinerlei vereinnahmende und sektenähnliche Züge aufweist, sondern auf eine befreite Weise ihr Menschsein und ihren Glauben lebt.


Weiterführende Links

Margaret Thaler Singer: Der Ausstieg aus der Sekte

Ausstiegshilfen im Internet



 
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