lebenshilfe-net.ch - 29.03.2024, 00:27
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Sektenexperte Georg Schmid über Hexen und Esoterik

 
Hexen und Esoterik
Georg Schmid, Leiter der reformierten Informationsstelle und Professor an der Universität Zürich, äussert sich im Gespräch mit Lebenshilfe-net zu Entwicklungen in der Esoterikszene und dem Hexen-Boom.

Das Handbuch „Kirchen, Sekten, Religionen" hat inzwischen seine siebte Auflage erreicht. Begründet wurde dieses Standard-Nachschlagewerk von Oswald Eggenberger; neu zeichnen der Religionswissenschaftler Georg Schmid und sein Sohn Georg Otto Schmid als Herausgeber.

Lebenshilfe-net: Herr Schmid, Sie schreiben in der Einleitung zum Handbuch: „Logenspiritualität erfreut sich grösster Beliebtheit". Was meinen Sie damit und mit Ihrer Feststellung, die Esoterik habe sich in den letzten Jahren insgesamt ‚versektet‘?

Georg Schmid: Die Loge ist eine elitäre Gruppe, die ihre Spiritualität unter sich pflegt und die „würdigen" Leute aufnimmt. Diese Logenspiritualität schenkt Gemeinschaft durch das Bewusstsein, zu einer Elite zu gehören. In einer Zeit der Selbstfindung offeriert sie neue Identität; Orden, Gewänder tragen dazu bei. Ja, die Esoterik hat sich teilweise in Grüppchen und Zentren zurückgezogen.

Sie nehme also weniger Offenheit und Sendungsbewusstsein wahr, sondern mehr Rückzug in eine gehobene Gruppe?
Wenn Sie die sogenannten Esoterikmessen und -tage als Gradmesser für die Entwicklung heute nehmen, sehen Sie einerseits den grossen Trend zum Heilen. Alles, was Richtung Heilung geht und irgendwie auf den Körper wirkt, wird gepflegt und verkauft sich gut: Körperübungen, Farben, Kristalle, Körperpositionen, Klangschalen. Auf der anderen Seite treten logenartige Zentren in den Vordergrund, die die Leute anziehen und ihnen Gemeinschaft bieten wollen.

An der Messe in Zürich beispielsweise war „Damanhur" vertreten, eine utopische esoterische Gemeinschaft aus Norditalien, eine Grossfamilie, die sich als Modell einer neuen Menschheit gibt. Esoterik ist heute also Sehnsucht nach elitärer Gemeinschaft - und Heilungsmarkt.

Ist die Gruppe diesen Menschen bereits das Ziel oder fühlen sie sich weiterhin unterwegs zu einer noch klareren Wahrheit, einem noch stärkeren Meister?
Wenn Sie auf esoterischen Bahnen „Gott" suchen, suchen Sie ihn letztlich in sich selbst. Das Göttliche ist das, was alle Aspekte der Wirklichkeit miteinander verbindet. Nun finden aber viele Esoterikerinnen und Esoteriker irgendwie nicht zum göttlichen Kern in sich. Dann brauchen sie einen Meister. Dieser Meister lebt Gott pur. Der Gott, den ich in mir nicht spüre, der ist präsent im Meister vor mir.

Für mich ist die Gruppenbindung in der Esoterik eigentlich ein Armutszeugnis. Das Grundgefühl der Esoterik ist pantheistisch: das Göttliche in jedem Schilfhalm entdeckt, in jeder Blume, in jeder Vogelstimme und dann natürlich auch in mir selbst. So eine Allerweltsspiritualität ist für mich typischer für die Esoterik als die konkrete Bindung an einen Guru.

In der Szene agieren aber auch Organisationen wie „Scientology", die extrem auf den einzelnen setzen und seine „Potenzen" steigern wollen. Haben Sie den Eindruck, dass „Scientology" Anhänger verliert?

Wir haben in unserem Buch die Scientology-Bewegung bei den Psycho-Gruppen eingeordnet. Diese sind im Unterschied zu esoterischen Gemeinschaften weltanschaulich zurückhaltender. Sie gehen nicht unbedingt von einer Welt aus, die von Gott durchwirkt ist. Bei Scientology geht es um die Steigerung des eigenen geistigen Potentials. Die Grundidee ist ja, dass ich einen perfekten Computer in mir habe, meinen Geist, mein Hirn, dass dieser Computer aber falsch programmiert ist und ich dies ändern kann und soll.

Scientology hat einen sehr harten Stand, weil sie als in Mitteleuropa die Sekte schlechthin gilt. In Deutschland wird die Bewegung noch härter kritisiert als bei uns. Der Grund, dass sie in diesen üblen Ruf hineinrutschte (im Unterschied zu den USA), ist wohl ihre ungeheuer durchorganisierte Struktur. Es gibt ganze Bände von Organisationsanweisungen von Ron Hubbard, dem Begründer. Scientology ist so was wie ein Staat im Staat.

Deutschland hat darauf natürlich hellhörig reagiert. Man sieht Scientology als eine totalitäre Organisation, die besonders überwacht werden muss. Ich kenne keine spirituelle, religiöse oder irgendwie geartete moderne Organisationen, die derartige Strukturen aufgebaut hat wie Scientology.

Zurück zur Esoterik insgesamt. Wird die Esoterik zu einer schleichenden Gefahr für die Gesellschaft, wenn immer mehr Menschen das Wesentliche nur noch in kleinen Gruppen suchen? Der Gemeinsinn verfällt doch, wenn der eine indianisch, der zweite tibetanisch, der dritte irgendwo pazifisch ausgerichtet ist und seiner eigenen Gedankenwelt nachhängt.

Ich sehe in der Gruppenbindung nicht nur ein Problem der Esoterik, sondern des religiösen Marktes überhaupt. Sie haben diese Tendenz auch bei Freikirchen. Es gibt viele kleinere Gemeinschaften. Nicht mehr alle Gemeinschaften sind in Verbänden organisiert. Man trennt sich relativ leicht und gründet eine eigene Organisation. Sie haben übrigens dieselbe Tendenz im Buddhismus, wo ungeheuer viele Gruppen und Varianten entstehen. Bei Hindu-Gruppen war es immer schon so: Sie haben ein Konglomerat von Leuten, die bei ihrem Meister, auf ihre Weise Wahrheit suchen.

Und da würde ich die „grossen" Kirchen - sie werden ja kleiner - dagegensetzen. Sie versuchten bisher, Menschen verschiedener Mentalität und unterschiedlicher spiritueller Ausrichtung zusammenzubringen. Das wäre sehr wesentlich. Wenn jeder sich in seinen kleinen Club zurückzieht, geschieht genau das, was Sie gesagt haben. Das Volksganze profitiert auch nicht mehr von diesen Formen der Spiritualität.

Kirche ist ein Gespräch über alle Varianten mindestens christlicher Spiritualität. Und eine Begegnung verschiedener Jüngerinnen und Jünger Jesu. Und das ist die grosse Chance der Landeskirche, aber auch ihr grosses Problem: Wie bringt man Leute zusammen, die sehr verschieden glauben und denken?

 
Georg Schmid
Georg Schmid
Sie setzen die Vielfalt unter Christen auf die gleiche Stufe wie die multireligiöse Aufsplitterung. Aber insgesamt gibt es doch unter den Kirchen einen Grundkonsens, der auf die Bibel zurückgeht. Die Vielfalt unter den Christen dürfte darum dem Gemeinsinn weniger abträglich sein als der multireligiöse Dschungel ...

Wenn Sie die Grundanliegen des christlichen Glaubens befragen, ist dieser Gemeinsinn natürlich mitgegeben. Paulus schreibt vom Sorgen der verschiedenen Glieder des Leibes von Christus füreinander und ringt selbst mit verschiedenen Strömungen. Da haben Sie ein Modell dafür, wie eigene Wege und Gemeinschaft zusammengehören. Beides muss da sein.

Nun haben Sie aber beispielsweise innerhalb der buddhistischen Strömungen in der Schweiz - es gibt ja schon unzählige Gruppen - auch den buddhistischen Dachverband, der sie zusammenzubinden sucht. Und er schafft es nicht. Auch im Christentum gibt es Gemeinschaften, die nirgends mitmachen. Vor allem bei Pfingstlern und Charismatikern, die aus jedem Verband ausgestiegen sind. Bei ihnen ist die Gefahr viel grösser, dass sie auf unserer Sektenskala nach oben rutschen und in einsamer Unfehlbarkeit ihre Wahrheit weiter verkünden. Der grössere Verband schützt auch die einzelne Gemeinschaft vor allzu sektenhaften Tendenzen.

Ein anderes Stichwort: die Hexe. Sie schreiben prägnant im Handbuch, dass sich da sehr viele Erwartungen, Sehnsüchte und auch Mangelerfahrungen von Frauen treffen.

Das Interesse an der Hexerei ist sehr gross. Das können Sie an den Esoterikmessen ablesen, wo die Hexenstände stark zugenommen haben. Hexenläden florieren, Hexenpublikationen sind in und Sie finden mehr und mehr Hexen-Foren im Internet.

Daraus konkrete Zahlen abzuleiten, ist sehr schwierig. Es gibt zwar Organisationen, die Mitglieder haben und Zahlen über Treffen herausgeben. Wenn Sie diese zusammenzählen, kommen Sie nicht auf sehr viele Leute. Doch Sie haben sehr viele Sympathisantinnen und Sympathisanten - und dann zahllose sozusagen freifliegende Hexen, die nirgends verbucht sind.

Gerade unter Mädchen ist das Interesse sehr gross. Immer mehr 14-19jährige möchten Hexen sein. Sehen Sie sich die Foren an: Sehr viele junge Frauen melden sich da. Hexe ist heute so etwas wie ein Leitbild für die dynamische, junge, eigenständige, ein bisschen rebellische Dame...

... für die nicht angepasste Teenagerin, die weder im herkömmlichen Sinn Karriere machen will noch Familie als Ziel hat. Sie will sich lieber mit ihren eigenen inneren Kräften und zusätzlichen von außen durchsetzen.

Wahrscheinlich verbinden sich im Bild der Hexe heute verschiedene Hoffnungen. Zum einen der Versuch, eine starke Frau zu sein. In der Hexe leben angeblich magische Kräfte aus der Urzeit. Die Hexe kann sehr vieles - auch der Männerwelt die Stirn bieten. Sie ist nicht auf andere angewiesen und kann beschwören.

Der Liebeszauber spielt eine grosse Rolle, auch der Schadzauber. Es fasziniert die Leute, wenn sie das versuchen und merken, dass es tatsächlich wirkt. Solche Spielchen werden ausprobiert.

Und vielleicht braucht eine junge Frau starke Frauen als Leitbilder, wilde, starke Frauen, wenn die anderen Leitbilder einfach zu brav oder angepasst oder nur Karrierefrauen sind. Und vor allem nur lieb sein, das ist auch oftmals auch kein verlockendes Leitbild.

Die Hexen des Mittelalters seien ein Protest gegen Unterdrückung gewesen. Aber heute haben wir in unseren Breitengraden kein Korsett, keine biografischen Muster mehr, in das Frauen eingezwängt werden könnten. Die Entfaltung der Persönlichkeit geschieht doch ohne Magie.

Was die Hexen im ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit eigentlich waren, ist nach den Inquisitionsberichten schwer zu fassen. Von den heutigen haben wir ein klareres Bild, auch wenn es verschiedene Strömungen gibt: Viele Hexen wollen eine möglichst gefährliche dynamische magische Frau sein. Vor allem junge Menschen: Wenn sie gefährlich sind, sind sie wer. Wenn die Umwelt vor ihnen Angst hat, schenkt einem das einen gewissen Wert! Das ist doch was! Man will nicht immer nur der Bubi oder das Mädchen sein.

Ich begreife, dass junge Menschen etwas völlig Alternatives zu leben versuchen. Aber was leben sie heute, wenn sie nicht so sein möchten wie ihre Alten? Wie können sie sich deutlich absetzen? Hexe ist eine Variante, Gruftie eine andere. Es gibt in der Gegenwart einige Möglichkeiten auszubrechen - aber sie können auch bei fundamentalistischen Jugendgemeinden mitmachen, zum Beispiel dem katholischen Opus Dei. Irgendwie anders glauben als die Eltern - das ist doch was.

Wenn man den Glauben der Eltern betrachtet (ich schliesse mich jetzt in dieses Urteil mit ein), muss man als junger Mensch sagen: Der Glaube ist doch weitgehend weder Fisch noch Vogel. Der bringt doch gar nichts. Dem fehlt die Eindeutigkeit. Und der junge Mensch will etwas Eindeutiges; eindeutig biblisch zum Beispiel, nicht so larifari wie der Papa. Oder eben eindeutig Hexe - nicht nur ein bisschen emanzipiert wie die Mami. Und im entscheidenden Moment kuscht sie dann doch wieder.

Die jungen Menschen wollen will etwas Eindeutiges. Und diese Eindeutigkeit können sie besser leben, wenn sie sich nicht an eine konkrete Zielvorgabe binden. Eindeutigkeit schenkt eigentlich nur der Traum. Was eine Hexe wirklich ist, lässt sich schwer sagen. Aber es ist ein schöner Traum ...

Bearbeitung: Lebenshilfe-net.ch

Autor: Peter Schmid

 
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