Neu zu leben beginnen – auf den Wegen der VergebungIn praktisch jeder Psychotherapie auf tiefenpsychologischer Basis muss der Einsichtsprozess von Vergebung begleitet sein. Ein Therapiefortschritt ist unmöglich, wenn das nicht der Fall ist. Insofern ist es wirklich erstaunlich, dass die Therapeuten diesen Themenbereich bis vor kurzem fast ausschliesslich den Theologen überlassen haben. Ich möchte eine erfahrungsbasierte Theorie der Vergebung skizzieren, die sich inzwischen in der praktischen Anwendung sehr bewährt hat. Wer die Wege zur Vergebung kennt, kann sie besser nutzen. Die Kränkung ist das Problem, das die Vergebung lösen kann Groll macht die Seele hart Wie die Psyche auf Kränkung reagiert Das versucht sie durch zwei Mechanismen zu erreichen: 2. gibt es die Fantasien darüber, wie wir unsererseits dem anderen schaden könnten, also Rachefantasien. Diese ermöglichen eine Art kurzzeitige Befriedigung.
Grübeln – Leerlauf im Hamsterrad Die Spannung, die jeder Mensch mehr als einmal erlebt, ist einerseits zu wissen, nichts wäre entspannender, würde den inneren Frieden mehr herstellen, als diese Sache jetzt loslassen zu können. Sie beiseite legen und sich viel erfreulicheren und sinnvolleren Dingen zuwenden zu können. Und andererseits: zu merken, dass es in bestimmten Situationen nicht geht. Hier ist der Ansatzpunkt für die verschiedenen Wege der Vergebung. Die Wege der Vergebung: Ich habe es in der Hand Es ist also prinzipiell eine Sache, die ich tun kann. Der grosse Vorteil ist: wenn es klappt, ist der Friede augenblicklich wieder hergestellt – jedenfalls mein innerer Friede. Und ich habe es in der Hand, das unabhängig von anderen jederzeit zu tun. Nur bleibt ja die Frage: wie kann es denn zwischen einer anderen Person und mir wieder gut sein, wenn ich auf die fällige Wiedergutmachung verzichte? Das heisst, wo bleibe ich denn mit dem Defizit, das da bei mir zurückbleibt? (nämlich emotional und materiell an Gutem, das er mir eigentlich noch tun müsste). Andersherum: wo bleibe ich mit dem Überschuss an Ärger und Verletztheit, den ich noch habe? Insgesamt gibt es drei Möglichkeiten, wie ich bewusst mit dem mir zugefügten Unrecht umgehen kann. Sehr viel geschieht natürlich auch unbewusst, wie z. B. Kopfschmerzen zu bekommen, wenn mich mein Vorgesetzter ärgert. Nur das suche ich mir nicht aus. Und die neurotische Lösung ist definitionsgemäss nicht so gut. Die Möglichkeiten, mit Unrecht, das uns angetan wurde, konstruktiv umzugehen, sind die drei Wege der Vergebung. In jeder dieser Möglichkeiten liegt jeweils eine eigene Chance, vergeben zu können:
Erster Weg der Vergebung: Verstehen Ein Bauer mit einer sperrigen Landmaschine auf dem Anhänger weicht Ihnen aus, so weit er kann. Trotzdem macht er Ihnen einen ziemlichen Kratzer an die Autotür. Recht ärgerlich. Aber vergleichen Sie das mal mit dem Gefühl, das in Ihnen aufsteigt, wenn Sie gerade dazu kommen, wie ein Zwölfjähriger Ihnen mit einem rostigen Nagel etwas in die Autotür ritzt. Ich denke, der Unterschied ist deutlich. Es scheint gar nicht um die Grösse des Unrechts an sich zu gehen, das uns widerfährt – der Kratzer an der Autotür ist jedes Mal gleich gross. Es geht vielmehr darum, ob ich verstehen kann, was da passiert ist, oder ob ich es im Extremfall für „reine Bosheit“ halte. Das gilt für alle Verletzungen zwischen Menschen. Deshalb sind wir ja auch oft so bemüht, möglichst schnell eine Erklärung dafür zu liefern, wenn wir uns auf eine Weise verhalten haben, von der wir annehmen, dass sie andere geärgert hat. Wir nennen das ja auch Ent-schuldigungen, also den Versuch, die Schuld so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Zum Glück sind z.B. die meisten Eltern geneigt und meist ziemlich weitgehend bereit, ihren Kindern gegenüber Verständnis aufzubringen. So hat der unausstehliche Dreijährige halt seine Trotzphase, die weinerliche Fünfjährige wohl Ärger im Kindergarten und die aggressive Grosse vielleicht Stress in der Schule. Die Bedingtheit des Handelns erkennen Partnerschaften leben geradezu davon, dass beide sich um gegenseitiges Verständnis bemühen – sie leben nur solange, wie beide das tun. Denn wie Sie wissen, kommt es im Zusammenleben von zwei Menschen eben immer wieder zu kleinen und grösseren Verletzungen und Kränkungen. Und die kann ich nur dadurch entschärfen, dass ich mir die Mühe mache, verstehen zu wollen. Das gilt natürlich genauso auch für andere Beziehungen, z. B. zu Arbeitskollegen im Beruf. Je mehr ich verstehe, desto weniger halte ich das, was mir da passiert ist, für ein Unrecht, das mir bösartig zugefügt wurde, und desto näher bin ich an der Vergebung. Aber dieser Weg erfordert auch Arbeit. Ich muss verstehen wollen. Und manchmal muss ich auch im Nachhinein noch einmal eine Situation ansprechen, in der ich mich ungerecht behandelt fühlte.
Zweiter Weg der Vergebung: Relativierung Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine Kollegin, die zu allen dienstlichen Besprechungen zu spät kommt. Mal 5, mal 10 Minuten. Sie könnten sich ja drüber aufregen. Es muss doch möglich sein, einmal pünktlich zu sein! Nun würde es Ihnen aber passieren, dass Sie sich zu einer solchen Konferenz, die Sie auch noch leiten sollen, dummerweise total verspäten und dann feststellen, dass Sie auch noch ihre Unterlagen vergessen haben. Alles sehr peinlich. Sie wären am nächsten Tag sicher geradezu dankbar, wenn wenigstens diese Kollegin wieder durch Zuspätkommen auffallen würde. Aus der Selbstgerechtigkeit gerüttelt Wer leicht vergisst, was ihm vergeben ist… Jesus zielt mit diesem Gleichnis auf unsere Lebensschuld, auf alles, was Menschen sich von Gott vergeben lassen möchten. Und er empfiehlt dringend, das als Schablone zu nehmen, vor der wir uns angetane Schuld beurteilen. Unsere eigene Lebensschuld bietet ungeahntes Relativierungspotential. Der Witz ist ja: wenn wir darauf hören und Vergebung gelingt, geht es uns anschliessend besser. Das Problem ist nur, dass unser narzisstisches System oft anders funktioniert: nämlich über Selbstaufwertung durch Verachtung des anderen. Wo ein Mensch relativiert, überwindet er diesen archaischen Mechanismus. Die Methode der Relativierung ergänzt sich übrigens sehr gut mit der des Verstehens. Wer diese Wege beide nutzen kann, wird in einer Freundschaft und einer Ehe gut zurechtkommen. Allerdings gibt es im Leben jedes Menschen früher oder später auch Situationen, wo auf diesen beiden Wegen Vergebung nicht zu erreichen ist, weil die Verletzung zu tief geht. Dritter Weg der Vergebung: Delegation Gerade in Zeiten, wo es nicht viele Ablenkungen und Aussenreize gibt, kommt die traumatisierende Situation immer wieder hoch, immer wieder verwickelt sich der Betroffene in hass- oder auch schamerfüllte Gedanken.
Wenn ‚vergeben’ einfach nicht funktioniert Dabei geht es ganz offensichtlich nicht darum, wie schlimm die Verletzung „objektiv“ war. Das Entscheidende scheint zu sein, auf welche psychischen Strukturen ein Trauma trifft, also dass mit bestimmten psychischen Strukturen wiederum bestimmte Traumen kaum zu verarbeiten sind. Im Trauma gefangen Sie verstehen, dass es da kaum möglich ist, über Verstehen etwas zu erreichen oder über Relativierung. Zumal immer noch neue abstossende und belastende Erinnerungen zu Tage kommen. Ausweg: Abgeben an eine übergeordnete Instanz Das könnte z. B. ein staatliches Gericht sein. Ich könnte ja jemanden anzeigen. Aber nur in den seltensten Fällen schwerer seelischer Verletzungen ist hier etwas zu erreichen. Wiedergutmachung ist eigentlich nur auf materieller Ebene möglich; ein gestohlener Betrag kann zurückgegeben werden. Seelische Verletzungen sind auf diesem Wege nicht wieder gut zu machen. Manchmal kommt es gar nicht zum Prozess, weil Verjährungsfristen schon abgelaufen sind oder Beweise fehlen. Enttäuschung im Gerichtssaal So erschoss ja einmal eine Mutter im Gerichtssaal den Mörder ihrer Tochter, weil sie die vorgesehene Strafe aus ihrem Gefühl heraus als absolut unzureichend ansehen musste. Die Rache an Gott abgeben… Hier liegt eine wirkliche Möglichkeit für ein Opfer, wenn ihm der Weg des Glaubens offen steht. Ich meine das so: Bei einer schweren Verletzung kommen immer wieder Erinnerungen und Bilder aus den Tiefenschichten der Seele hoch, bis wo das traumatisierende Werkzeug eingedrungen ist. Damit verbunden dann Gefühle wie hilflose Wut und Hass. Vergebung kann auf diesem Hintergrund nicht heissen: den Täter wieder mögen und lieb haben, sich über sein Wesen freuen – es sei denn ein Wunder geschieht. Eine vollständige Versöhnung ist oft lebenslang nicht möglich. …und bewusst auf Vergeltung verzichten „Der Täter hat eine schwere Strafe als Sühne für seine Tat verdient. Dazu stehe ich auch als Christ, weil es in der Bibel steht. Weil ich aber an Gott glaube, glaube ich auch, dass die wahre und tiefste Gerechtigkeit bei ihm ist. Ich verzichte darum darauf, mich in Worten, Gedanken und Taten zu rächen und dabei zwangsläufig neues Unrecht zu tun, sondern gebe die Rache an Gott ab, der sagt, dass sie seine Sache ist. Den Schuldschein, den ich habe, und der mir schon so viele schlaflose Nächte, Hassgedanken und Grübeleien eingebracht hat, will ich nicht mehr haben. Ich will ihn ein für allemal an Gott abgeben.“ Das ist auch Vergebung! Ich vergebe den Schuldschein an Gott.
Die Kette des Hasses zerbrechen Frei werden für Neues Und immer, wenn die alten negativen Gefühle wieder kommen – das tun sie allerdings mit Sicherheit – kann ich mich darauf berufen, dass ich die Rache abgegeben habe und das gegebenenfalls auch für dieses Stück Erinnerung tun, das mir da gerade wieder hochgekommen ist. Im Bild gesprochen: wenn mir der Schuldschein doch mal wieder zwischen die Finger flattert, lege ich ihn umgehend auf Gottes Schreibtisch zur weiteren Bearbeitung. ‚Rache abgeben’ als Wende im Leben Die Rache abzugeben kann etwas sehr, sehr Entlastendes sein. Ein Mensch ist endlich aus dem Sumpf der immer auch selbstquälerischen Hassgedanken heraus. Sich selbst besser verstehen lernen Vergebung ist ein Prozess, der sehr lange dauern kann. Und trotzdem brauchen wir da, wo Vergangenes uns belastet, nicht zum x-ten Mal hilflos dabei zuzusehen, wie negative Gedanken sich bei uns breit machen, unser Denken ausfüllen und uns Lebenszeit stehlen. Wir dürfen diejenigen Wege der Vergebung beschreiben, die uns jetzt schon offen stehen. Das eigentlich Hilfreiche an den Wegen der Vergebung ist, dass sie ermöglichen, alte und destruktive Geschichten loszulassen. Wo Menschen das tun, werden ihre Hände wieder frei für konstruktive Lebensgestaltung. Buch zum Thema Schuld und Schuldgefühle, Rache und Rachewünsche Weitere Bücher von Dr. Martin Grabe im Francke-Verlag: Autor: Dr. Martin Grabe ist Chefarzt der Abteilung Psychotherapie der Klinik Hohe Mark in Oberursel (Taunus). | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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