Verbale Gewalt – Wenn unterdrückte Gefühle sich Luft verschaffen

Verbale Gewalt ist allgegenwärtig, subtil und entwürdigend. Der Diplompsychologe und Familientherapeut Andreas Zimmermann analysiert im Interview verbale Gewalt zum Thema und gibt Hinweise, wie sie vermieden werden kann.


Verbale Gewalt ist allgegenwärtig, subtil und entwürdigend.

Herr Zimmermann, was ist verbale Gewalt?
Beim Thema verbale Gewalt denkt man sofort an Beschimpfungen und verbale Über- bzw. Untergriffe. Aber diese Art von Gewalt beginnt schon viel früher und äussert sich auch in einer energischen, aber abwertenden Haltung und Redeweise. Zum Beispiel, wenn Menschen zu Arbeitsfaktoren, Frauen zu Weibern oder ähnliches werden. Ich sehe darin eine subtile Form von Gewalt. Es ist eine Entwertung des Menschen, die lange Zeit unterschätzt wurde.

Wo fängt die verbale Gewalt an?
Wenn wir achtsam sind, finden wir verbale Gewalt überall. Sie zieht sich von Zweierbeziehungen über Familien bis hinein in die Wirtschafts- und Arbeitswelt. Wenn der Mensch nicht mehr in seiner Würde wahr- und ernstgenommen, sondern mit Worten herabgestuft wird, dann nenne ich das verbale Gewalt.

Wir finden sie auf dem Schulhof, im Unterricht, im Büro, zu Hause. In einem Umfeld, in dem verbale Gewalt alltäglich und normal ist, fällt dieser entwürdigende Umgang miteinander gar nicht weiter auf. Aber es gilt auch das andere: Wie ich rede, so bin ich. Sprache verrät viel über mich, über meine Haltung mir und anderen gegenüber.

Wie kann man die Muster der verbalen Gewalt in seinem Umfeld durchbrechen?
Indem ich zum Beispiel meinen eigenen Kinder beibringe, ihre Gefühle so auszudrücken, daß sie andere Menschen nicht verletzen. Denn starke Gefühle wie Wut, Hass, Zorn bzw. Enttäuschung und Trauer sind o.k.

Wichtig ist nur, dass ich sie benennen kann und ihnen nicht in einem Zorn ausgeliefert bin. Denn dann würde es gefährlich. Davor warnt uns auch die Bibel: Achte auf den Umgang mit deinen starken Gefühlen! So heisst es im Epheserbrief zu Recht: "Zürnt ihr, so sündigt nicht. Lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen" (Epheser , Kapitel 4, Vers 26). Oder im Galaterbrief steht, wir sollen auf die "Werke des Fleisches" achten (Galater, Kapitel 5, Vers 19).

Auch in diesem Zusammenhang werden starke Gefühle wie Neid, Eifersucht und andere angeführt. Und auch hier ist der Tenor: Achte auf das, was du dann damit machst. Ich finde es hilfreich, wenn ich meine Bedürfnisse und Gefühle wahrnehme und ausdrücke. Andere wissen dann, woran sie sind, ohne dass ich sie verletze. Solche Hinweise sind wichtig in der Beratung und in Seminaren über Kommunikation und Konfliktbewältigung.

In den christlichen Gemeinden wird schnell mal eine "heilig-zudeckende" Sprache gebraucht. Umso mehr Wert sollten wir darauf legen, daß wir unsere Wünsche und alles, was wir "auch noch meinen", tatsächlich beim Namen nennen. Sonst geraten wir in eine emotionale Falle: Wer gut sein will, wird irgendwann böse. Dann schlagen einfach die Emotionen durch, auch in Form von verbaler Gewalt.

Was bedeutet das im Alltag?
Wenn ich meinen Ärger unterdrücke, merkt zunächst niemand was davon. Ich schaffe es vielleicht sogar, dem anderen im Gebet zu vergeben. Gott hat uns aber als seelisch-geistig-emotionale Einheit geschaffen, und da haben Gefühle eben tatsächlich einen eigenen Stellenwert.

Unterdrückter Ärger ist unbewältigter Ärger. Aus Angst vor Fehlern und Verletzungen schiebt man ihn beiseite. Aber er kommt wieder hoch. Dann haben wir den Effekt, wie bei einem Ball, den wir unter Wasser drücken: Eine gewisse Zeit lässt sich das machen. Aber wehe, wenn mir dieser Ball aus der Hand rutscht. Dann knallt er richtiggehend nach oben.

Genauso ist es mit zurückgehaltenen oder unterdrückten Gefühle. Werden sie übergangen und nicht wahrgenommen, dann äussern sie sich irgendwann und irgendwie von selber, und zwar heftiger, als wenn ich sie mir gleich von Anfang an eingestanden hätte.

Jesus ist hier ein Vorbild für ein authentisches Leben. Er lebte seine Gefühle offen und sehr lebendig - für sich selber, mit Gott und auch gegenüber anderen Menschen. Das macht ihn so sympathisch. Aber gleichzeitig hatte genau das sein Umfeld maximal herausgefordert. Und auch uns heute.


Andreas Zimmermann: "Wahrheit ohne Liebe ist Brutalität."

Wie wirkt sich verbale Gewalt aus?
Sie vergiftet mich und meine Beziehungen. Unterdrückte Gefühle zeigen sich in verbaler Gewalt; in einer indirekten und gerade dadurch verletzenden Art und Weise.

Um einen negativen Ausdruck wiedergutzumachen, braucht man fünf positive Worte. Und doch wird mehr kritisiert als gelobt. Ich meine damit nicht ein vorschnelles Lobhudeln, sondern eine liebevolle und ehrliche Haltung mir und anderen gegenüber.

Was raten Sie zu diesem Thema?
Das, was uns auch die Bibel rät: miteinander in Liebe und Wahrheit umgehen. Zu so einem liebevoll-ehrlichen Umgang gehört, dass ich mich selber mit meinen Wünschen, Sehnsüchten und Gefühlen wahrnehme, also allem, was zu meinem Leben gehört. Und dass ich lerne, mich damit Gott, meinem Nächsten und auch mir selber zuzumuten.

Wer sich das nicht traut, der wird irgendwann selber zu einer Zumutung. Damit verletzt man sich selber, wird krank, und andere ziehen sich verärgert zurück.

Auch Kritik gehört zum Leben dazu. Es ist allerdings immer die Frage, wie ich sie vorbringe. Nicht die Tatsachen verletzen, sondern wie sie ausgedrückt werden. Der Ton macht die Musik. Wahrheit ohne Liebe ist einfach Brutalität. Liebe ohne Wahrheit ist Heuchelei.

Autor: Iris Muhl
Quelle: Livenet.ch

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