Wie wirkt Musik?

 
Musik wirkt nicht nur positiv
Musik wirkt nicht nur positiv auf den Hörer.
Die Musikerin Christel Oefele regt mit dem folgenden Beitrag dazu an, den eigenen Musikkonsum – auch den unbewussten – einmal grundlegend zu überdenken. Sie vermittelt dazu die Kriterien.

„Das hängt doch von der Musik ab!“ Richtig! Es ist ein grosser Unterschied, ob ich zum Beispiel eine Kinderstimme ein Lied singen höre, ob ich in einem Orchesterkonzert sitze oder in der Disco „beim Abtanzen“ bin. Ganz unterschiedliche Musik – doch das ist nicht alles: Im ersten Fall beruhigt sich vielleicht ein Kind und schläft leichter ein, wenn es die vertraute Stimme der Mutter beim allabendlichen Gute-Nacht-Lied hört. Doch der ältere Nachbar fühlt sich beim Mittagsschlaf gestört, wenn das Kind das gleiche Gute-Nacht-Lied lauthals zur Mittagszeit im Garten absingt… Die gleiche Musik – zwei verschiedene Wirkungen; hervorgerufen durch die jeweilige Situation.

Beim zweiten Beispiel gehe ich davon aus, dass verschiedene Personen im gleichen Konzert sitzen: Ich stelle mir einen älteren Hobbymusiker vor, der leidenschaftlich Fagott spielt, einen Techno-Freak, der auf Geheiss seiner Eltern mit diesen „wenigstens einmal richtige Musik hören“ soll, und eine Journalistin, deren Kritik am nächsten Tag in der Zeitung zu lesen sein wird. Der ältere Herr verfällt in Euphorie, als der Fagottist sein Solo bravourös meistert, dem Jugendlichen ist es völlig egal, ob gerade ein Fagott oder ein Cello seine Ohren plagt; das Ganze hat in seinen Augen sowieso nichts mit „richtiger Musik zu tun. Und die Journalistin? Sie wird diese Musik mit den Ohren der Kritikerin hören.

Auf jede Person wird das gleiche Stück anders wirken. Die Einstellung, mit der ich Musik höre, bestimmt wesentlich, wie sie mich beeinflusst. Meine Einstellung wiederum ist geprägt von verschiedenen Faktoren: Die Musik, mit der ich gross geworden bin, zum Beispiel im Elternhaus oder auch in der Gemeinde; die Stilrichtung, die mir besonders zusagt; Stücke, mit denen ich besondere Erlebnisse verbinde. Auch meine momentane Verfassung spielt eine Rolle: bin ich müde, beschäftigt mich etwas sehr stark, fühle ich mich alleine, bin ich ausgeruht? Je nachdem werde ich auf Musik sehr unterschiedlich reagieren.

Hörertypen
Der Theologe, Ethiker und Musikpädagoge Peter Bubmann nennt ein weiteres Kriterium: „... Hörerforschungen (sind) zum Ergebnis gekommen (...), dass es unterschiedliche Hörertypen gibt: Texthörer, die primär auf Songtexte achten; dann Hörer, die das Musikhören nur als Mittel zu anderen Zwecken benutzen, etwa um mit hoher Lautstärke die Eltern zu ärgern; sodann zerstreute Hörer, die die Musik als Klangtapete brauchen, damit sie sich wohler und weniger einsam fühlen.“ Bubmann unterscheidet im weiteren Motoriker, die jede Musik sofort in Körperbewegungen umsetzen müssen, bei denen gleichsam unter Umgehung des Bewusstseins Ohren und Beine kurzgeschlossen werden; Stimmungshörer, die Klänge dazu benutzen, in ihre eigenen Phantasien abzudriften; Fans, die sich hauptsächlich für die Stars und Geschichtchen statt für die Musik interessieren; und schliesslich informierte Hörer und Kenner, die sich mit der Machart der Musik beschäftigen und sich über Hintergründe und Kompositionstechniken kundig machen(1).“

Zwei Hauptrichtungen
Diese Ausführungen lassen vermuten, dass im Grunde über die konkrete Wirkung von Musik nichts gesagt werden könne. Hans H. Decker-Voigt beschreibt zwei Hauptrichtungen, die er unter den Begriffen ergotrope (anregende) und trophotrope (beruhigende) Musik zusammenfasst werden können. Er macht deutlich, dass Musik nicht nur positiven Einfluss auf Menschen ausüben, sondern im Extremfall auch schwere körperliche Schäden hervorrufen kann. Damit soll keine bestimmte Musikrichtung verteufelt werden. Vielen kommt beim Begriff ergotrope Musik wohl zuerst harter Rock in den Sinn.

Aber Achtung: auch Stücke ganz anderer Stilrichtungen weisen ähnliche Merkmale auf: Man denke etwa an den Eingangschoral „Jauchzet, frohlocket“ aus dem ersten Teil von Bachs Weihnachtsoratorium oder an die schweizerische Nationalhymne. Damit soll nicht gesagt werden, dass sich die negativen Auswirkungen von Musik auf Ausnahmen beschränken und sich deshalb der Normalbürger die Auseinandersetzung mit dem eigenen Musik-Umgang ersparen kann. Im Gegenteil, dieser Beitrag soll dazu anregen, die eigenen Hörgewohnheiten – auch den unfreiwilligen Konsum zum Beispiel im Supermarkt – oder die Musikpraxis in der eigenen Gemeinde, den Stellenwert der Musik, Stilrichtungen, Singtradition und Liedauswahl zu überdenken.

Hilfreiche Kriterien
Woran können wir uns in der Auseinandersetzung mit diesem Thema orientieren? Die Bibel gibt uns keine schnelle Antwort auf die Fragen zum Umgang mit der Musik. Zu vielfältig sind ihre Überlieferungen, die vom Singen und Spielen handeln. „Halleluja! Singt dem Herrn ein neues Lied!“ (Psalm 149, Vers 1); „Lobet ihn mit Pauken und Reigen, lobet ihn mit Saiten und Pfeifen!“ (Psalm 150, Vers 4). Diese und andere Psalmverse rufen zum Musizieren als Lob Gottes auf, sind weithin bekannt und begründen den gesungenen Lobpreis.

Anders Amos, Kapitel 5, Vers 13: „Gott spricht: „Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder! Ich mag dein Harfenspiel nicht hören!““ Anscheinend ist es mit der noch so perfekt aufgeführten Bach-Motette oder den „most powerful worship songs“ – so ein CD-Titel – nicht getan. Musik kann nicht dazu dienen, Missstände in der Gemeinde zu übertönen. 1. Samuel, Kapitel 16, Verse 14-23 berichtet, wie David mit seinem Harfenspiel König Saul von Ängsten befreit und Musik damit therapeutisch einsetzt; Jesaja, Kapitel 5, Vers 11f. von Trinkgelagen mit Musik, und in Offenbarung, Kapitel 8, Verse 2 und 7 lesen wir von den verheerenden Wirkungen der von den Engeln geblasenen Posaunen. Schon diese wenigen Beispiele zeigen das Spektrum biblisch-musikalischer Zeugnisse.

Grenzen der Freiheit
Peter Bubmann liefert noch einen andern Ansatz, der weiter hilft: Mit Paulus setzt er bei der dem Menschen von Gott geschenkten Freiheit an. „Diese Freiheit ist nun klar zu unterscheiden von Willkür, also von der These, Freiheit bestehe darin, immer nur das zu tun, wozu man gerade Lust habe. Insofern gibt es durchaus Grenzen der christlichen Freiheit. Die sind aber nicht einfach übergeschichtlich, sondern verändern sich durch die soziale und geschichtliche Situation. Die Zehn Gebote sind wichtiger Ausdruck solcher Freiheitsgrenzen. Aber selbst sie sind zeitbedingt und daher heute zu ergänzen oder neu zu interpretieren(2).“ Von dieser Grundlage aus entwickelt Bubmann Leitlinien zur Bewertung der Wirkung von Musik, die er in verschiedene Wirkungsarten unterteilt.

Von der physiologischen Wirkung war weiter oben schon die Rede. Die grundsätzlich positiv zu bewertende ganzheitliche Erfahrung von Musik wendet sich ins Gegenteil und ist aus christlicher Sicht abzulehnen, „sobald Musik aufgrund ihrer Lautstärke oder Struktur (...) Schädigungen an Leib und Seele bewirkt(3).“

Grosses Konfliktpotenzial
 
Pianist am Klavier
Pianist am Klavier: An Gottesdienst-Musik scheiden sich oft die Geister.
Sehr wichtig für die christliche Gemeinde ist die gemeinschaftsstiftende Wirkung von Musik. Gemeinsames Singen, Musizieren und Hören stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe. Was wären unsere Gottesdienste ohne die gemeinsam gesungenen Lieder? Doch liegt genau hier auch ein grosses Konfliktpotential: Wie schnell fühlen sich Gemeindeglieder von der Gemeinschaft ausgeschlossen, weil das Liedgut nicht ihrem Geschmack entspricht, weil sie nicht mitsingen können, weil die Lieder unbekannt sind, wenn sie die Folien nicht lesen können, oder der englische Text nicht für alle verständlich ist.

An der gottesdienstlichen Musik scheiden sich sehr oft die Geister, und von den Pfarrern und Musikern ist viel Fingerspitzengefühl gefordert, damit die eigentlich gemeinschaftsbildende Wirkung des gemeinsamen Singens nicht ins Gegenteil umschlägt und zu Ausgrenzung oder Spaltungen führt. Hier liegt noch viel Arbeit vor uns, wenn die Zukunft nicht alleine bei musikalischen Richtungsgemeinden liegen soll.

Missbrauch und Kommerzialisierung
Oft wird Musik auch zu politischen Zwecken eingesetzt. Richard Wagners Werke wurden vom Regime des Dritten Reiches dermassen für eigene Zwecke vereinnahmt, dass es lange Zeit tabu war, seine Musik in Israel aufzuführen. Erst im Herbst 2001 kam es, immer noch umstritten, im Staat Israel zum ersten öffentlichen Konzert mit Wagnerscher Musik.

Politik fängt schon im Kleinen an: Als Konsument bestimme ich, was ich fördern will und was nicht. In Bezug auf Musik stellt sich die Frage, welche Produktionen ich durch den Kauf von CDs und den Besuch von Konzerten unterstütze. Höre ich, wofür am lautesten geworben wird, oder nehme ich mir Zeit beim Aussuchen und stosse auf qualitativ bessere und weniger kommerzorientierte Aufnahmen? Es ist durchaus legitim, wenn wir uns beim Musikhören mitnehmen lassen und uns in angenehmen Klängen wohl und geborgen fühlen.

Geistige…
Zu geistigen Wirkungen kommt es vor allem beim eigenen Musizieren. Aktives Singen und Spielen fördert die Kreativität und die Konzentrationsfähigkeit und weite den geistigen Horizont. In „Musikklassen“ wie etwa an der Orientierungsstufe im Kanton Basel-Stadt bestätigt sich, dass die intensive Auseinandersetzung mit Musik sich positiv auch auf die Leistungsfähigkeit in anderen Fächern auswirkt. Hier bestehen kaum Gefahren einer Umkehrung des Positiven ins Negative; höchstens dann, wenn es zu Einseitigkeiten in dem Sinne kommt, dass Musik einen so hohen Stellenwert erhält, dass Gespräche über andere Themen nicht mehr möglich sind.

…und religiöse Wirkungen
Zum Schluss noch ein paar Worte zur religiösen Wirkung von Musik. Unter diesem Begriff ist zunächst einmal alles zusammengefasst, was Menschen über die eigene Alltagserfahrung hinausführt und sie eine im weitesten Sinne spirituelle Dimension des Lebens erahnen lässt. Ein Grossteil der weltlichen Popmusik greift religiöse Themen auf und geht, mehr oder weniger differenziert, auf den spirituellen Hunger des Publikums ein. Musik kann selbst zum Kult werden: Manche Opernfestspiele oder Rockkonzerte überschreiten die Grenzen zwischen raffinierter Inszenierung und Götzendienst. In den Achtziger Jahren boomte die Heavy Metal-Szene; einige der Gruppen hatten sich tatsächlich die Verbreitung von okkultem und satanistischem Gedankengut zum Ziel gesetzt. In deren Sog nutzten viele andere Bands bluttriefende Platten-Covers, schaurige Texte und aggressives Gehabe auf der Bühne nicht aus Überzeugung, sondern lediglich zur Erhöhung der Verkaufszahlen.

Dass sowohl das wirklich Okkulte als auch das im okkulten Gewand verkleidete Belanglose aus christlicher Sicht nicht zu unterstützen sind, versteht sich von selbst. Heutzutage gestaltet sich die Beurteilung der religiösen Dimension von Musik schwieriger. Nicht mehr offene Teufelsanbetung, sondern vielfältige, oft vermischte religiöse Aussagen durchziehen die Texte der populären Musik. So sind wir aufgefordert, genau hinzuhören, was Interpreten uns vermitteln wollen.

Im christlichen Gottesdienst bietet der Einsatz von Musik viele Möglichkeiten, die bisher genannten Wirkungen von Musik sinnvoll zu nutzen. Ihre religiöse Wirkung zeigt sich vor allem darin, dass sie, wie auch die bildende Kunst, als Ausdrucksmittel für geistliche Inhalte dient, die über in Worte fassbare Aussagen hinausgehen.

Ob bewusst oder unbewusst, ob freiwillig oder nicht, Musik begleitet uns durch einen Grossteil unseres Alltages. Christen sind aufgerufen, sorgsam mit dieser Gabe Gottes umzugehen. „Die theologische Ethik kann nur einige Hinweise geben, die bei der Urteilsbildung und bei der Bewertung von Musik zu beachten sind. Entscheiden müssen letztendlich die Glaubenden selbst, allerdings nie in privater Abschottung, sondern in öffentlicher Auseinandersetzung und im Kontakt mit anderen Christinnen und Christen(4)“.

(1) Bubmann Peter. Can’t beat the feeling. Musik wirkt – aber wie? „In Peter Bubmann. Von Mystik bis Ekstase. Herausforderungen und Perspektiven für die Musik in der Kirche“. München, 1997, 51f
(2) Bubmann Peter, a. a. O., S. 57
(3) Bubmann Peter, a. a. O., S. 57
(4) Bubmann Peter, a. a. O., S. 57

Hintergrund: Ergotrope und trophotrope Musik und ihre Wirkung
Ergotrope (stimulierende, aktivierende) Musik
Merkmale:
- rigidere Rhythmen, beschleunigend
- Dur-Tonarten
- Dissonanzen
- grössere Dynamik
- stark akzentuierte Rhythmik
- starker Auftrieb und abrupter Abfall der Tonlinie, die innerhalb weiterer Höhenspannen verläuft
- Stakkato, Charakter
- erhöhte harmonische Aktivität
- Betonung der Dissonanzen
Kann folgende Reaktionen beim Hörer auslösen
- Erhöhung der Blutdrucks
- Beschleunigung von Atem- und Pulsfrequenz
- vermehrtes Auftreten rhythmischer Kontraktionen der Skelettmuskulatur
- erweiterte Pupillen
- grösserer Hautwiderstand
- Emotionalisierung, Erregung, Rauschzustand bis zu Schmerz und auch Tod Trophotrope (beruhigende, entspannende) Musik
Merkmale:
- schwebende, nicht akzentuierte Rhythmen
- Moll-Tonarten
- Konsonanzen
- geringe Dynamik
- Vorherrschen von Legato
- sanftes Fliessen der Melodie
- harmonische Bewegung
Kann folgende Reaktionen beim Hörer auslösen
- Blutdruckabfall
- Verlangsamung von Atem- und Pulsfrequenz
- Entspannung der Skelettmuskulatur
- verengte Pupillen
- geringerer Hautwiderstand
- Beruhigung, Lustgefühl bis zur Somnolenz
*Schläfriger Zustand mit leichter Bewusstseinstrübung

Christel Oefele (33) arbeitet zu 20 Prozent in der Berufstätigenarbeit der Vereinigten Bibelgruppen (VBG) mit. Sie koordiniert die Arbeit unter Berufstätigen im Raum Basel und beschäftigt sich mit den Themenbereichen „Musikpädagogik“ und „Musik in der Kirche“.

Autorin: Christel Oefele


Quelle: Bausteine/VBG

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