Das Dorf erneuern, wenn die Welt Kopf steht

 
Karl Sieghartsleitner
Realistischer Optimist: Karl Sieghartsleitner hat sein Dorf revitalisiert.
Die ländlichen Lebensräume dürfen der Globalisierung nicht zum Opfer fallen, im Gegenteil: Ihre Bewohner haben das Potenzial, die Entwicklung menschen- und schöpfungsgerecht zu gestalten. Eine Tagung im Thurgauer Dorf Wilen machte Mut, die Welt vom Dorf her zu denken.

Die Schweizer hätten sich etwas an Wertschätzung des ländlichen Raums bewahrt, sagte Karl Sieghartsleitner, der Hauptreferent der Wilener Impulstagung, die am 5. und 6. Januar 2007 stattfand. Sieghartsleitner war 1986-2002 Bürgermeister von Steinbach an der Steyr (Oberösterreich). Das entlegene Dorf, seit Jahrhunderten für Besteckherstellung bekannt, verlor ab 1960 seine Absatzmärkte und drohte zu verfallen.

Nach 1986 schafften die Steinbacher die Wende: Durch koordinierte Bemühungen, einvernehmliche Entscheide und gezielte Investitionen wurden der Ortskern renoviert, Wohnungen für Familien geschaffen und Biobetriebe ins Leben gerufen. Steinbach stoppte die Abwanderung und verdoppelte in 20 Jahren die Zahl der Kleingewerbe- und Dienstleistungsbetriebe; die meisten Bauernhöfe wurden erhalten und 300 Obstsorten gesichert.

Wo nehmen wir Werte her?
 
Ein Besuch in Steinbach bewog ihn,
Ein Besuch in Steinbach bewog ihn, Impulse in die Ostschweiz auszusenden: Kurt Enderli.
Der Katalysator dieses Prozesses sprach an der bisher grössten Schweizer Veranstaltung über Werte-orientierte Dorfentwicklung, die – natürlich – abseits der Zentren stattfand. Der Wilener Gemeindeammann Kurt Enderli hatte Steinbach 2006 besucht und darauf die Tagung initiiert, an der an beiden Tagen 150 Personen aus politischen und Kirchgemeinden teilnahmen (gratis waren Einwohner des Dorfs dabei, das an Wil SG grenzt und wegen der nahen Autobahn stark wächst). In seiner Einleitung fragte der Gemeindeammann, woher Verantwortungsträger die Werte nehmen, an denen sie ihre Entscheide messen. Laut Enderli finden sich im Schöpfungsplan Gottes universelle, unabänderliche Grundwerte, aus denen Werte für Dorf, Familie, Wirtschaft, Staat, Schule und Gesellschaft abzuleiten sind.

Kranke Riesen, bedrohte Zwerge
Sieghartsleitner lobte die an der UNO-Konferenz von Rio 1992 verabschiedete Agenda 21 als Ansatz, der beängstigenden globalen Schieflage (Plünderung der Ressourcen, Umweltzerstörung) zu begegnen. Wie der 2001 verstorbene Zukunftsforscher Johann Millendorfer sieht er
 
Modellgemeinde Steinbach an der
Modellgemeinde Steinbach an der Steyr.
institutionellen Krebs, kranke Riesen (Konzerne, Bürokratien) und bedrohte Zwerge. Während die Bevölkerung global wachse wie nie zuvor, sei ihr Schwund in Mitteleuropa nicht mehr aufzuhalten. 90 Prozent aller Wissenschaftler, die je auf der Welt gelebt hätten, seien heute tätig, sagte Sieghartsleitner, dabei schreite die Apparatisierung des Menschen fort; Verunsicherung, Sinn- und Ziellosigkeit prägten die Spassgesellschaft. Allerdings sei nicht die Globalisierung an sich das Problem, sondern ihre mit Freihandel und freiem Kapitalverkehr enthemmte globale Profitmaximierung.

Ökosozial oder gar nicht
„Die landwirtschaftliche Globalisierung ist ein zivilisatorische Sackgasse“, hielt der diplomierte Ingenieur fest und beklagte den Verlust an Bodenfruchtbakreit, den Verfall von Kulturlandschaft, die Abnahme von Sortenvielfalt und naturgegebener Lebensqualität. Als Ausweg bleibe allein: eine nachhaltige Entwicklung durch ökosoziale Marktwirtschaft. Und dazu sollen Dörfer den Weg weisen. Die Steinbacher Erfolgsgeschichte legt es nahe, „in die Region zu investieren – nicht dort wo’s eh schon die stärkste Entwicklung gibt, sondern dort, wo es unseren Nachkommen dient!“ Eine regionale Kreislaufwirtschaft soll möglichst viel in der Nähe produzieren (mehr Vertrauen, weniger Transport-Emissionen).

Nur miteinander
 
Urs Winkler legte Zusammenhänge
Urs Winkler legte Zusammenhänge der wirtschaftlichen Globalisierung dar.
Wesentlich ist ein familienfreundliches Klima. „Was geschähe, wenn alle Senioren der Schweiz und Österreichs täglich einer Mutter helfen würden?!“ Laut Sieghartsleitner kommt es darauf an, die Leute am Ort in Analyse und Konzepterstellung einzubinden – „nicht erst am Schluss zu fragen, ob’s passt.“ So könne Hoffnung wachsen. Betroffene Einwohner, Fachleute und Zuständige hätten zusammenzuwirken. Die für die Erneuerung nötige Kreativität entstehe in einem „Klima des Wohlwollens“. Konfrontationismus und Parteienstreit müssten der Kooperation weichen. „Wir brauchen eine Klimaveränderung in unseren Gemeinden, Dörfern, Kirchen – und dann in Europa!“

Kirche fürs Dorf
In einem gesonderten Vortrag ging Karl Sieghartsleitner auf die Rolle von Kirchgemeinden und Pfarreien ein. In den Bahnen des Zürcher Reformators Zwingli formulierte er: „Die Pfarrei braucht die Mit-Sorge der politischen Gemeinde; diese braucht die Wert- und Sinn-Orientierung durch die Pfarrei.“ Beiden gehe es um ein gelingendes Leben; dabei sollten die Christen immer wieder an
 
In der neuen Kapelle
In der neuen Kapelle, wo Reformierte und Katholiken von Wilen Gottesdienst feiern, fand zwischen den Referaten eine Abendbesinnung statt.
die Lebensgrundlagen erinnern. Vorträge von Urs Winkler, Leiter von World Vision Schweiz, der Agroökonomin Edith Moos-Nüssli („Lebensqualität durch Nähe“) und dem VBG-Institutsleiter Hanspeter Schmutz rundeten die Impulstagung ab. Auch wenn die föderale Struktur der Eidgenossenschaft lokale Erneuerungsprozesse erleichtern mag – wohl tat der pointierte, unverwüstliche Optimismus Sieghartsleitners: „Möge Wilen so was werden wie ein Impuls, dass die Schweizer ernst machen mit einer Umkehr zum Leben.“

Die Vorträge der Wilener Impulstagung auf DVD: bestellen unter service@wilen.ch
Hoffnung fürs Dorf: Weiterer Livenet-Artikel zum Thema
Texte zu Transformation in der VBG-Zeitschrift „Bausteine“ 3/05
Mehr zu Steinbach an der Steyr - 1
Mehr zu Steinbach an der Steyr - 2
Die ‚Bausteine’ 3/05 über Transformation als PDF

 
Wieviel Raum finden Kinder?
Wieviel Raum finden Kinder? Die Entwicklung Steinbachs geht unter Sieghartsleitners Nachfolger weiter.
 
100 Schulkinder sangen das
100 Schulkinder sangen das vom Gemeindeammann (rechts) selbst getextete Wilener Lied. In der Mitte die Tagungsmoderatorin Isabelle Denzler.

Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch
Datum: 10.01.2007

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