Liebe, Revolution und die Sehnsucht nach dem Paradies

 
Neuer Mensch: Jean Valjean
Neuer Mensch: Jean Valjean kämpft um Gerechtigkeit für Fantine (links Javert)…
Das Musical „Les Misérables“ bietet alles, was das Singtheater Kult werden lässt: feingesponnene Liebesduette, Helden und verzweifelte Frauen, explosive Konflikte und einen durchdringenden Appell zur Menschlichkeit. Die Thuner Aufführung gerät zum Spektakel, das tieferen Fragen Raum gibt.

In ihrem fünften Sommer bieten die ThunerSeespiele das Drama um Liebe und Menschlichkeit in schwerer Zeit, welches Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg aus dem epochalen Roman von Victor Hugo destilliert haben. Aus der Überfülle der von Hugo gezeichneten Personen und Schauplätze greift das Musical einige Knoten heraus, in denen sich die Handlung verdichtet. Im Zentrum steht die Wandlung des Jean Valjean vom ressentimentgeladenen Sträfling und Habenichts zum Wohltäter, der zum Segen für Mitmenschen wird und sich bis ins Alter für seine Cosette aufopfert. Diese Wandlung kontrastiert mit der unabänderlichen, unerbittlichen Pflichtbesessenheit des Beamten Javert und seinem verhärteten Gerechtigkeitssinn, der ihn im Finale der Verzweiflung preisgibt. Erstaunlich die Lichtgestalt des katholischen Geistlichen, der von Jesu Erlösungswerk motiviert ist. Er bewahrt Valjean vor erneuter Haft und vermittelt ihm so den Impuls zum Neuanfang („er hat mich brüderlich behandelt, hat mir vertraut, hat mich verwandelt“, singt dieser, „ein neues Leben fängt nun an“).

Bösartige Gier und verletzliche Schönheit
 
Kauft ihre Tochter Cosette
…und kauft ihre Tochter Cosette von den Thénardiers frei.
Die Hoffnung auf ein besseres Morgen angesichts schreiender Ungerechtigkeit im Frühkapitalismus durchzieht das Musical, dessen Thuner Inszenierung Urs Häberli besorgt hat.

Ungeheuer, ja beängstigend die schmierige Gewandtheit des Spelunkenwirts Thénardier und seiner geldgierigen Frau – sie nutzen jede Gelegenheit, sich (Kost-)Bares unter den Nagel zu reissen, bis hin zur Leichenfledderei. Berührend, wie die von Marius zugunsten von Cosette zurückgelassene Eponine ihrem Leid Sinn abzuringen sucht. Die Hauptdarsteller, allen voran Sergio-Maurice Vaglio als Valjean, überzeugen mit ausdrucksstarkem Gesang, den die Tontechnik zusammen mit dem Orchestersound differenziert zum Publikum trägt (das Orchester spielt im Untergrund; der Kopf des Dirigenten Iwan Wassilevski ist in der Mitte des Bühnenbodens zu sehen).

Revolutionsbegeisterung – in Thun
 
Revolution: Les Misérables
Revolution: Les Misérables vor der Berner Alpenkulisse.
Gegen Ende des Musicals gibt die Revolutionsbegeisterung der Studenten dem psychologischen Drama der Hauptpersonen den äusseren Rahmen. Die ungestüme französische Erwartung des „neuen Tags“ jenseits der Barrikaden (für die meisten Studenten von 1832 endete sie im Jenseits!) trifft im Herzen der Schweiz auf eine andere Mentalität. Hier sitzen Zuschauer, deren Vorfahren sich seit dem letzten Bürgerkrieg 1847/48 mit Fleiss, Geschick und politischer Konkordanz (nicht ohne Zerreissproben) allmählich erarbeitet haben, was gebeutelte Völker durch Revolution auf einen Schlag zu erlangen hoffen. Sind die Schweizer noch empfänglich für das urmenschliche Sehnen nach einer wahrhaft gerechten Welt, das die kühnen Pariser Studenten herausschreien? Oder haben sie sich im selbstgeschaffenen Paradies zu gut eingerichtet?

Alles für die Adoptivtochter
Das weltweit am meisten gesehene Musical (angeblich 50 Millionen Zuschauer) begeistert auch in der Thuner Inszenierung unter freiem Himmel. Das Industrie-Bühnenbild von stellt sich allerdings massig vor die verdämmernde Alpenlandschaft, wohl um zu unterstreichen, dass es hier nicht ums Walten der Natur geht, sondern um menschlich verursachte Not und die Kraft, damit umzugehen.
 
Marius und Cosette.
Liebe jenseits der Barrikaden: Marius und Cosette.
Sie manifestiert sich in Valjeans Entschluss, alles zu tun fürs Wohlergehen der kleinen Cosette, deren Mutter Fantine aus seiner Fabrik entlassen worden und in der Armut zugrundegegangen ist. Mit seinem selbstlosen Einsatz für die Adoptivtochter lebt er Humanität angesichts von roher Profitgier.

Hinsehen – heute
Der Protest Hugos gegen Unmenschlichkeit, gegen die von Menschen geschaffene Hölle, ruft der Frage: Liegt das unruhige 19. Jahrhundert so weit zurück? Unser sozialstaatlich garantiertes Lebensniveau darf nicht darüber hinwegtäuschen: Es gibt Missstände nicht bloss in den Slums der Dritten Welt, sondern weiterhin auch in Europa: im armen Südosten und Osten des Kontinents, im Schacher mit Frauen, die hier im Westen zur Prostitution gezwungen werden, in Migrantenquartieren und Siedlungen der Roma, in der Ausbeutung illegaler Arbeitskräfte. Und wie sind jene Kinder dran, die von Erziehenden mit TV und Videogames abgespiesen werden? Victor Hugos Appell zur tätigen Menschlichkeit, die sich für die Besserstellung des Schwachen, das Aufrichten verkrümmter Seelen hingibt, trifft auch das 21. Jahrhundert.

Les Misérables
auf der Seebühne in Thun
bis 22. August
Mehr

Bilder: © thunerSeespiele, Markus Grunder

Peter Schmid
Livenet.ch

  Artikel versenden
Druckansicht
 
Rat & Hilfe per E-Mail
Haben Sie Fragen oder suchen Sie Rat? [weiter]

 

 

 

 

Suche 
Newsletter bestellen