Sie frisst mich auf

 
Wie viel Zeit können Sie
Wieviel Zeit können Sie ihr oder ihm zu Verfügung stellen, ohne dass Ihre Gesundheit gefährdet ist?
„Ich habe eine gute Freundin, die mich fast aufsaugt. Ihr Mann hat sie vor einiger Zeit sitzen lassen. Sie ist einsam und enttäuscht vom Leben. Nun ruft sie täglich an und klagt mir ihr Leid, drängt mich, sie zu besuchen oder sie kommt vorbei. Das geht nun schon eine ganze Weile so. Ich merke, dass es mir zu viel wird und es mich herunterzieht. Ich habe schliesslich auch eine Familie. Ich möchte ihr ja helfen, aber ich schaffe es einfach nicht mehr. Was soll ich tun?“ (Mirjam, 42)

Liebe Mirjam
Sie haben offenbar die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzufühlen und mit ihnen Schmerz und Leid zu teilen. Das ist eine wunderbare Gabe. Das spürt auch ihre Freundin. Sie fühlt sich bei ihnen verstanden und gut aufgehoben. Nun scheint ihr Anspruch an Sie allerdings masslos zu werden. In ihrer Not stürzt sich diese Frau auf Sie und vereinnahmt Sie. Das dürfen Sie nicht weiter zulassen, denn es besteht die Gefahr, dass Sie völlig ausbrennen und sich Ihre Empathie gegenüber dieser Freundin sogar ins Gegenteil verkehrt: In Ihnen können sich plötzlich innere Widerstände und Gefühle der Ablehnung, im Extremfall gar Hass aufbauen, was Sie beide und Ihre Beziehung letztlich kaputt machen würde. Um dies zu vermeiden, rate ich Ihnen zu folgen Schritten:

Grenzen ziehen
Sprechen Sie mit Ihrer Freundin offen über Ihre Überforderung. Das ist nicht einfach, aber dringend nötig. Versuchen Sie sich zunächst selbst klar zu werden, wo Ihre Grenzen überschritten werden. Ist es der Zeitanspruch? Wieviel Zeit können Sie dieser Person zu Verfügung stellen, ohne dass Ihre Gesundheit gefährdet ist und ihr Familienalltag darunter leidet? Vielleicht sind das zwei Telefongespräche und ein Treffen pro Woche. In Notfällen kann es auch einmal etwas mehr sein. Sagen Sie dieser Frau konkret, wo es Ihnen zu viel wird. Es kann auch sein, dass es einzelne Themen und Probleme sind, mit denen Sie sich überfordert fühlen. Sei es die zerbrochene Beziehung dieser Frau zu ihrem Mann oder eine Depression, unter der sie leidet. Teilen Sie der Freundin klar mit, wo sie ihr nicht helfen können, weil Ihnen die Fachkenntnis und die Erfahrung fehlen.

Auf professionelle Hilfe verweisen
Zu einem offenen Gespräch gehört auch der Rat, geeignete Hilfe von aussen in Anspruch zu nehmen. Sie können Ihrer Freundin helfen, gemeinsam die richtige Anlaufstelle zu finden, sei es seelsorgerliche Hilfe in einer Kirchgemeinde, eine ärztliche oder psychologische Beratung. Letztlich ist Ihrer Freundin nur gedient, wenn ihre inneren Verletzungen von Gott geheilt werden und sie wieder Frieden und Lebensbejahung findet. Während einer Zeit der Therapie oder der seelsorgerlichen Aufarbeitung können Sie dann einen wertvollen Dienst leisten, indem Sie diese Frau begleiten und immer wieder ermutigen, wenn sie an ihre Grenzen stösst und vielleicht aufgeben will.

Darf man sich abgrenzen?
Das Liebesgebot von Jesus Christus fordert seine Nachfolger auf, Gott und den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Deshalb gibt es Menschen, die sich teilweise bis zur Selbstaufopferung für andere einsetzen. Sich aus Liebe so für den Nächsten hinzugeben, dass man wie Jesus selbst sein eigenes Leben nicht schont, steht in gewisser Weise als Ideal vor unseren Augen. Ja, sicher: Helfen soll doch gesunde diakonische Herausforderung für unser Leben sein. Im Extremfall kann uns die Liebe in einen solchen Auftrag führen. Denken wir an eine Mutter Theresa, an viele Menschen, die sich in der Dritten Welt für die Nöte der Ärmsten hingeben. Es sind Gottes besondere Berufungen. Darf man sich also von der Not eines Menschen abgrenzen?

Auch harte Lösungen aus Liebe
Zunächst müssen wir auf Gott hören. Er gibt die Aufträge und er zeigt auch die Grenzen. Menschen mit viel Empathie neigen allerdings dazu, mehr auf ihr Gefühl als auf Gott zu hören. Nöte anderer Menschen sind ihnen Auftrag genug. Sie leiden mit allen Nöten mit, wollen überall helfen, verlieren und erschöpfen sich darin. Sie werden auch oft ausgenützt, gar missbraucht von Menschen, die ihre Probleme letztlich gar nicht anpacken wollen. Hier gilt es, auch aus christlicher Sicht, Grenzen zu setzen. Missbräuche müssen aufgedeckt werden, die Wahrheit muss auf den Tisch und vernünftige Lösungen müssen her. Das tönt für Helfer mit viel Mitgefühl manchmal hart. Und doch führen oft nur solche Wege die Betroffenen ein Stück weiter und schützen die Helfer vor Überforderung. Auch das ist christliche Nächstenliebe.

Liebe Mirjam, ich wünsche Ihnen viel Mut für dieses offene Gespräch mit Ihrer Freundin und viel Kraft für die Begleitung dieser Frau in einen Prozess der Heilung.

Autor: Fritz Herrli
Quelle: Livenet.ch

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