Lebensmitte als Chance nutzen

 
Unser Körper
Unser Körper reagiert sehr positiv auf liebevolle Pflege.
Wie kann die Krise in der Mitte unseres Lebens schöpferisch und fruchtbar für das weitere Leben werden? Wir baten Annemarie Schmid, Familienfrau, Seelsorgerin und Kursleiterin, ihre eigenen Erfahrungen auszuwerten.

Körperliche Veränderungen melden sich unübersehbar. Die körperlichen Kräfte haben mit vierzig ihren Zenith erreicht und lassen unmerklich nach. Das Gewicht, welches nie ein Thema war, wird jetzt zum Thema. Erste braune Flecken auf der Handoberfläche, ein Hals, der schlaff und faltig wird. Schlafstörungen, Schmerzen an verschiedenen Gelenken. Die Monatsblutungen ziehen sich zurück, bei etlichen leise und unauffällig, bei anderen mit einem wahren biologischen Tumult verbunden.

Es ist das Unabänderliche dieser Prozesse, das Ausgeliefertsein an sie, welches uns verunsichert und hilflos macht. Vielleicht auch traurig oder verzweifelt. Ich entschloss mich, diesem körperlichen Alterungsprozess nicht mehr Aufmerksamkeit als unbedingt nötig zu schenken. Nachdem die Umstellung von Vollrahm auf Halbrahm und ähnliche Tricks vollzogen waren, entschied ich mich zu einem Ja für die Freuden des Essens und für die Veränderung zu finden.

Betätigung zu finden
Unser Körper – die Bibel spricht von der „Hütte“ – reagiert sehr positiv auf liebevolle Pflege. Unsere Hütte will uns zu einem Ort der Sicherheit werden. Wir dürfen uns in ihr wohl fühlen und Selbstvertrauen geniessen oder neu gewinnen.

Ich wanderte über zwei Pässe auf den Simplon. Alleine. Es ist ein königliches Gefühl, mit schwingenden Stöcken auszuschreiten. Die Knie sind entlastet, der Schultergürtel bleibt im lockeren, kräftigen Ausschreiten entspannt. Vögel, Heuschrecken und Murmeltiere sind Wegbegleiter. Schafglocken. Die Wege sind gut markiert, ich fühle mich sicher. An meiner Hüfttasche hängen der kleine Feldstecher und die Digitalkamera, jederzeit griffbereit.

Seele und Geist
Was wir waren, sind wir nicht mehr. Was wir sein werden, sind wir noch nicht. Und eigentlich wissen wir gar nicht, was wir einmal sein werden. Was wir jetzt sind, gefällt uns nicht. Kennen Sie diesen Zustand? Er trifft auf einen Teenager zwischen 12 und 16 und wohl auch für manchen im fünften Lebensjahrzehnt zu.

„Wir sind wach, konzentriert wach, wie vielleicht noch nie in unserem Leben. Bei uns Frauen treten männliche Züge stärker zu Tage. Wir entwickeln eine gesunde Angriffigkeit und werden fähiger, uns Konflikten zu stellen. Wir erleben eine neue Sachlichkeit. Wir beginnen Übergeordnetes wahrzunehmen, der Horizont unserer Familie weitet sich. Es ist an der Zeit, unsere Kinder radikal loszulassen, im Bewusstsein, dass unsere körperliche Mutterschaft gelebt ist. Wir sollen zu einer geistlichen Mutterschaft, einer geistlichen Fruchtbarkeit vorstossen. Ganz neue Horizonte tun sich auf. Sie warten darauf, entdeckt, erwandert, erspürt, erlitten und erschlossen zu werden.

Lernen, allein zu sein
Für mich gab es aber auch Momente einer grossen Leere und Verunsicherung. Die drei Kinder brauchten keine Mutter mehr, die mit ihnen am Mittwochnachmittag Winterkleider einkaufte. Ich konnte ihrem Leben keine Struktur mehr geben. Diese hatten sie in sich selbst gefunden. Da waren Kräfte in mir, Liebeskräfte, die stark geworden waren. Meine Kinder wollten sie nicht mehr. Diejenigen, die sie vielleicht brauchten, hatte ich noch nicht im Blickfeld. Eine interessante Beobachtung aus jenen Jahren: Ich hielt mich für einen Menschen, der sehr gut allein sein kann und sich selbst motiviert und strukturiert. Nun entfiel durch die erfüllte Erziehungsaufgabe die äussere Struktur, die dieser Auftrag meinem Leben gab. Und ich begann zu realisieren, wie schwer es sein kann, Alleinzeiten zu füllen – dem eigenen Leben eine Struktur zu geben.

Beziehung zur Aussenwelt
 
Lebensmitte als Chance nutzen
Haben wir noch Begabungen, die irgendwo in einem Tiefschlaf liegen, so ist es höchste Zeit, sie ans Licht zu holen und auszuleben. Gemeinsam werden wir daran arbeiten, dass unsere Veränderungen den ihnen gemässen Platz in der Ehe finden. Dass sie ihre Bedrohung verlieren. Wir werden erleben, dass sie notwendig sind.

Eine weitere Beobachtung, die mir persönlich immer wesentlicher wird: Flexibilität ist gefragt. Sehr viel Flexibilität. (Flexibilität ist für mich identisch mit dem biblischen Wort Demut.) Da gibt es Kräfte in uns, die sich zurückziehen und Kompetenzen abgeben möchten. Die uns einflüstern, wir dürften unser Leben nun immer bequemer leben und auch etwas unbeweglich und stur werden dabei. Und da sind die anderen Kräfte, die sich überschäumend Bahn verschaffen. Verweigern wir diesen Lebens- und Liebeskräften die Bahn, werden wir depressiv.

Beziehung zur Innenwelt
Sie findet bei mir in der Nacht statt. Ich liege oft wach. Der älter werdende Mensch braucht weniger Schlaf, und so reicht die Kraft immer, auch wenn die Nacht kurz war. Eine beglückende Erfahrung. Wir haben uns mit unserer Vergangenheit auseinander zu setzen. Der grössere Teil unseres Lebens ist gelebt. Haben wir Frieden darüber gefunden? Wir haben eine Zukunft vor uns und dürfen Zukunftsperspektiven entwickeln.

Und wir haben die grosse Herausforderung des Heute. Wie ist es so zu leben, dass wir saftvoll und frisch bleiben? „... Noch im Alter sind sie saftvoll und frisch, zu verkünden, wie gerecht der Herr ist, mein Fels, an dem kein Unrecht ist“ (Die Bibel, Psalm 92).

Literaturtipps:
- Ago Bürkis Buch „Ich bin nicht mehr die Frau, die du geheiratet hast“ ( vergriffen ) prägt mich seit vielen Jahren. Kernsätze, die ich mir herausschrieb, verinnerlichte ich und verstehe sie immer tiefer. Ihre psychologischen und geistlichen Einsichten flossen auch in die Ehewochen, die ich mit meinem Mann Max seit Jahren leite, ein.
- Anselm Grüns Buch „Die Lebensmitte als geistliche Aufgabe“, welches ich als 40-Jährige las, inspirierte mich sehr. Bleibende Frucht dieser Lektüre ist die Tatsache, dass ich sehr oft, wohl täglich, an den Tod denke.
- Kürzlich las ich Julia Onkens „Altweibersommer“. Es erfrischte und bestätigte mich. (AMS)

Artikel zum Thema: Gibt es überhaupt eine Midlife-Crisis?

Autorin: Annemarie Schmid


Quelle: Bausteine/VBG

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