Moleküle regulieren das GewichtDie „Adipositasepidemie“ Adipositas wird in hohem Mass vererbt, also nicht allein durch die Lebensbedingungen bestimmt. Zwillingsstudien an eineiigen Zwillingen, die getrennt voneinander in verschiedenen Familien aufgewachsen sind, zeigten dies deutlich: Etwa zwei Drittel der Zwillingspaare haben ein ähnliches Körpergewicht, obwohl sie in verschiedenen Familien aufgewachsen sind. Das bedeutet, dass bis zu 70 % der Adipositasentstehung genetisch mitbestimmt sein können. Weitere Studien zeigten, dass es tatsächlich physiologische Faktoren gibt, die das Risiko erhöhen, dick zu werden. Dazu gehört zum Beispiel ein niedriger Grundumsatz oder ein niedriges Niveau an Spontan-Aktivität (2, 3). Beobachtungen aus vielen Familien, in denen sowohl schlanke als auch übergewichtige Kinder aufwachsen, werfen jedoch weitere Fragen auf. Wie kommt es, dass einige Menschen sowohl als Kind als auch als Erwachsener nach Lust und Laune essen können und ihr Gewicht dennoch relativ konstant halten? Andere wiederum nehmen rapide zu, wenn sie ihrem natürlichen Hunger folgen. Kurz, wie reguliert der Körper Hunger, Appetit, Sättigung und auch das Gewicht? Im Zentrum: der Hypothalamus Bereits vor 50 Jahren wurden im Hypothalamus zwei verschiedene Regionen mit entgegengesetzter Wirkung auf die Nahrungsaufnahme identifiziert: der ventromediale Hypothalamus (VMH), der als Sättigungszentrum fungiert, und der laterale Hypothalamus (LH) – das Hungerzentrum. Beide Regionen stehen in Kontakt miteinander. Ist das eine Zentrum aktiv, wird das andere gehemmt und umgekehrt (3). Dennoch blieb lange Zeit unklar, wie die Hunger/Sättigungsregulation auf molekularer Ebene funktioniert. Mit der Klonierung des Leptingens im Jahr 1994 begann das Verständnis der molekularen Mechanismen dieser Regulation. Leptin meldet als peripheres Hormon des Fettgewebes den Zustand der Energiereserven des Körpers an das Zentralnervensystem (ZNS). Weitere Untersuchungen über die zentralen Wirkungen von Leptin führten schliesslich zur Entdeckung von weiteren Stoffen und Arealen, die an der Energiebalance des Körpers beteiligt sind (2). Die Konsequenz aus diesen Entdeckungen: Die Regulation der Energiehomöostase ist wesentlich komplexer als bislang vermutet, und das einfache Bild vom Hunger- und Sättigungszentrum kann nicht mehr aufrecht erhalten werden (2, 3).
Regulation der Nahrungsaufnahme Die kurzfristige Regulation wird dagegen durch Hunger und Sättigung gesteuert. Hunger ist ein innerer Trieb, der zur Nahrungsaufnahme führt. Ist der Trieb befriedigt, treten Sättigung und Sattheit ein. Als Sättigung wird das Ende der Nahrungsaufnahme bezeichnet. Sattheit tritt erst nach Ende der Mahlzeit ein und beschreibt die Zeitdauer bis zum nächsten Hungergefühl. Über den Sättigungsmechanismus, der letztlich die Mahlzeitengrösse bestimmt, ist bereits vieles bekannt. Weitgehend unbekannt ist bislang jedoch, wie die Intervalle zwischen den Mahlzeiten (Mahlzeitenfrequenz) reguliert werden. Die Dehnung des Magens und des Darms sowie deren Inhalt sind die wichtigsten Sättigungssignale. Kaubewegungen sowie sensorische Informationen aus Nase, Mund, Rachen und Speiseröhre sind ebenfalls daran beteiligt (3, 6). Auf zwei Wegen erhält das Zentralnervensystem Informationen über die Nahrungszusammensetzung: 1. über den Vagusnerv, der mit feinen Verästelungen den Verdauungskanal durchzieht sowie Beide Wege ermöglichen eine Chemorezeption. Bestimmte Fasern des Vagus werden z. B. nur durch kurzkettige Fettsäuren, andere durch kurzkettige Fettsäuren und Glyzerin gereizt. Diese Reizung führt schliesslich zu einem Nervenimpuls im ZNS. Die endokrinen Zellen werden ebenfalls durch einen ZNS-Impuls erreicht, allerdings auf indirektem Weg: Sie reagieren auf Magensäure, Aminosäuren oder Zucker mit der Freisetzung von Peptidhormonen, kleinen Proteinen mit Hormonwirkung, wie z. B. Cholezystokinin (CCK). CCK reizt dann wiederum den Vagusnerv. Denkbar ist auch, dass CCK via Blut direkt in den Hypothalamus gelangt (3). Weitere Peptide, die am Sättigungssignal mitwirken, sind in Tabelle 1 genannt. Über den kurzfristigen, gastrointestinalen Zustand hinausgehend informieren zwei weitere Sättigungsmechanismen den Körper über seine Energievorräte. Sie messen einerseits den Glykogenvorrat – den kurzfristigen Energiespeicher – und andererseits die Fettspeicher, das langfristige Energiedepot. Für diese Mechanismen wurden die „glukostatische“ und „lipostatische“ Theorie aufgestellt. Die glukostatische Theorie Die lipostatische Theorie Das neue Bild von Leptin Nach heutigem Kenntnisstand hat Leptin nicht – wie ursprünglich vermutet – die Aufgabe, den Körper vor zuviel Nahrungsaufnahme zu schützen, sondern im Gegenteil Nahrungsmangel zu verhindern. Tritt ein Leptinmangel auf, dann reagiert der Körper mit Hungergefühlen, während ein Überschuss nicht zwangsläufig den Appetit reduziert. Ausserdem hat Leptin eine Bedeutung für das Immunsystem und die Fruchtbarkeit. Beide Körperfunktionen sind sehr energieaufwändig. Sind die Fettspeicher leer und somit kein oder nur wenig Leptin im Blut, dann werden diese beiden Körperfunktionen gedrosselt, um Energie zu sparen und das Überleben zu sichern (3). Typisches Beispiel für diesen Prozess ist die Anorexie. Bei anorektischen Frauen bleibt die Regelblutung aus. Auch bei pubertären Mädchen beginnt die Regelblutung erst, wenn der Körper einen bestimmten kritischen Fettgehalt überschritten hat. So stellt die Natur sicher, dass eine Schwangerschaft erst eintritt, wenn die Mutter genügend Energiereserven aufgebaut hat (7). Trotz dieser wichtigen Aufgaben scheint Leptin nicht essentiell zu sein. Zum Beispiel werden Mäuse mit einem Leptindefekt zwar extrem adipös und steril, können aber dennoch überleben. Auch die wenigen bekannten Menschen mit Leptinmangel sind extrem fettleibig und wahrscheinlich nicht fortpflanzungsfähig, zeigen ansonsten jedoch wenig andere pathologische Erscheinungen (3). Informationszentrale Hypothalamus Der Hypothalamus verarbeitet aber nicht nur diese eine Information. Er fungiert vielmehr als Schaltzentrale für alle körpereigenen (internen) und äusseren (externe) Reize, wie Geruch, Geschmack etc. Alle Signale, die über den Körperzustand berichten, also sowohl aus Drüsen (humorale) als auch aus dem peripheren Nervensystem (nervöse) freigesetzte, werden im Hypothalamus mit den Signalen verrechnet, die über die externen Bedingungen informieren. Dieser Prozess wird als Integration bezeichnet.
Hypothalamische Kerne und Zonen Die einfache Vorstellung eines ventromedialen Sättigungs- (VMH) und eines lateralen Hungerzentrums (LH) ist angesichts moderner Erkenntnisse nicht mehr haltbar: Beispielsweise resultiert aus einer Verletzung im LH nicht nur eine Störung der Nahrungsaufnahme, sondern auch ein vollständiges Ignorieren aller Aussenreize, also ein kompletter Motivationsverlust. Darüber hinaus führten Schädigungen am VMH nicht zum Überessen, wenn gleichzeitig der Vagusnerv durchtrennt wurde. Ausserdem kann mittlerweile ausgeschlossen werden, dass sich das Hunger- und das Sättigungszentrum gegenseitig hemmen. Vielmehr wurde entdeckt, dass beide Zentren mit dem dorsomedialen hypothalamischen Nukleus (DMH), dem Nukleus Arcuatus (ARC) und dem Nukleus Paraventrikularis (PVN) verbunden sind. Die Nahrungsaufnahme wird also nicht von zwei Zentren allein gesteuert, sondern durch ein komplexes Netzwerk (orexisches Netzwerk). Dieses Netzwerk dient als Integrationszentrum zur Kontrolle der Nahrungsaufnahme und der Energiehomöostase. Ihm gehören mindestens der PVN, DMH, VMH, LH und ARC an (5). Signalüberträger im Hypothalamus Noradrenalin kann als einziger Transmitter sowohl die Nahrungsaufnahme anregen als auch unterbinden, je nachdem auf welche Rezeptoren er trifft. Im PVN stimuliert er nicht nur die Nahrungsaufnahme, sondern steigert selektiv die Aufnahme von Kohlenhydraten. Das Peptid Galanin verstärkt die Fettaufnahme und Opiod-Peptide erhöhen die Proteinaufnahme. Neuropeptid Y (NPY) ist derzeit der stärkste bekannte Stimulator des „Fressverhaltens“. Wird NPY in das PVN injiziert, dann wird sogar bei gesättigten Tieren die Aufnahme von Nahrung – insbesondere Kohlenhydraten – erreicht. Parallel dazu wird die energieverbrauchende Wärmeerzeugung gedrosselt. Bei Nahrungsentzug wird verstärkt NPY freigesetzt, Nahrungsaufnahme reduziert NPY. Das Corticotropin-freisetzende Hormon (CRH) ist der Gegenspieler von NPY. Es wirkt katabol, weil es im PVN die Nahrungsaufnahme bremst und den Energieverbrauch erhöht. Gleichzeitig bewirkt es die Stressantwort durch Freisetzen von Stresshormonen aus der Hypophyse. Leptin stimuliert wiederum die Biosynthese und Freisetzung von CRH (5). Der POMC/MC-Signalweg Bislang unbekannte Neuropeptide Ein sehr interessantes, neu entdecktes Neuropeptid ist das Cocain- und Amphetamin-regulierte Transkript, kurz CART. Dieses Peptid bewirkt eine starke Hemmung der Nahrungsaufnahme und hemmt die NPY-induzierte Nahrungszufuhr vollständig. CART ist mit POMC in Neuronen des ARC und benachbarten Regionen verschaltet. Die CART/POMC-Nervenzellen sind Leptin-sensitiv. Die bisher vorliegenden Befunde deuten darauf hin, dass die Verschaltung zum Leptin-System zur Steigerung von Thermogenese, Energieverbrauch und reduziertem Körpergewicht beiträgt. Energiehomöostase kompliziert reguliert Die Beteiligung von derart vielen und verschiedenen Peptiden, Transmittern etc. an der Regulation von Gewicht, Energiehomöostase, Hunger und Sättigung zeigen, dass die Entstehung einer Adipositas möglicherweise durch viele Gene bestimmt wird. Bisherige Genomkartierungen deuten auf eine Vielzahl von Orten auf verschiedenen Chormosomen hin, die vielleicht eine Rolle spielen. Möglicherweise wirkt sich eine komplizierte Regula-tion und körperliche Ausstattung, die in Notzeiten das Überleben sichert, im Überfluss nachteilig aus. Derzeit ist die Suche nach einer medikamentösen Therapie der Adipositas im Gange. Sie konzentriert sich auf Medikamente, die über eine Beeinflussung der Neuro-transmitter den Hunger unterdrücken. Angesichts der zahlreichen Wirkungen untereinander und der komplizierten Regulation scheint das Ergebnis dieser Suche jedoch nicht unproblematisch. Unerwünschte Wirkungen sind denkbar (4, 5). Dorle Grünewald-Funk; Quellen: | ||||||||||||||||||||||||
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