Dargebotene Hand: Wut, Ohnmacht und Sehnsucht nach Heil
Vor zehn Jahren entschied sich die Mutter von mittlerweile 20-jährigen Zwillingen für die freiwillige Mitarbeit bei der Dargebotenen Hand - Telefon 143 und wurde schon während der Ausbildung gehörig überrascht von «den Themen, deren Tiefe und allem, was die Teilnehmenden an Lebenserfahrung, Lebensfreude und Lebenssinn mitbrachten». Noch immer freut sich Vera auf jede einzelne Schicht, die sie so bewusst angeht wie abschliesst. Kleider, Kerzen, Klänge «Ihn dann gut zu beenden, ist für mich enorm wichtig», sagt die 53-Jährige. Das heisst, sie bleibt noch etwas vor Ort, geht in Gedanken den Einsatz abermals durch, tauscht sich mit einer anderen Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter aus. Schliesslich steigt sie in ihr Auto und fährt heimwärts - manchmal laut singend, um Distanz zum Gehörten zu gewinnen.
«Es ist nicht selbstverständlich, dass man bei der 143 anruft. Es braucht Mut, diese Nummer zu wählen. Ich bringe den Anrufenden neben meinem Fachwissen auch Wertschätzung, ein offenes Ohr und ein offenes Herz entgegen.» Oft hört Vera: «Ich brauche nur einen Satz von Ihnen.» Sie konkretisiert: «Beim Reden stelle ich primär Fragen, denn eine Frage lässt alles zu. Dann geht es darum wahrzunehmen, was die andere Person nicht sagt. Ich reagiere auf ihr Schweigen, auf Veränderungen in ihrer Atmung, auf ihr Weinen in allen Formen, all das sind ebenfalls Worte.» Vera ergänzt: «Menschen finden durch das Gespräch zu ihren inneren Kräften zurück, nicht selten zu einem erlösenden Lachen. Das alles nimmt ihnen nicht die Not, aber ermöglicht ihnen, den nächsten Schritt im Leben zu wagen.» Vom Leben berührt sein Vera: «Menschen wollen wahr, ernst genommen werden, so sein, wie sie jetzt sind. Für mich ist daher das Ganz-im-Moment-sein und zuhören oft wichtiger als reden. Das heisst, ich halte die Not des Anderen aus, übernehme sie aber nicht.» Gerüstet und gestärkt für dieses Engagement wurde die freiwillige Mitarbeiterin der Dargebotenen Hand durch die mehrmonatige Ausbildung mit Praktikum und wohl ebenso entscheidend durch ihre persönliche Einstellung, die sie so formuliert: «Man muss selber vom Menschsein fasziniert und vom Leben berührt sein.» Vera* (Name der Redaktion bekannt) Telefon 143 - die Geschichte Kaum vier Jahre später wurde in Zürich unter dem Namen «Dargebotene Hand» die erste Telefonseelsorgestelle der Schweiz eröffnet. Auch dank finanzieller Unterstützung des Migros-Gründers Gottlieb Duttweiler und eines nicht genannt sein wollenden Geschäftsmannes aus Zürich. Zur Namensgebung eine kleine Anekdote, wonach Gottlieb Duttweiler damals sagte: «Und jetzt müssen wir dem Kind noch einen Namen geben.» Nach einigem Hin und Her streckte er über den Tisch seine offene Hand entgegen mit der Bemerkung, «was meinen Sie zu der "dargebotenen Hand"?» Bis 1975 wurden in der Schweiz zwölf Regionalstellen eingerichtet. Im Jahr 2006 verzeichnete Telefon 143 und www.143.ch über 230.000 Kontakte. Rund zwei Drittel der Hilfesuchenden sind Frauen. Ohne die 600 freiwillig Mitarbeitenden gäbe es die Dargebotene Hand nicht.
Autorin: Carmen Frei | ||||||||||||||||
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