Erneuerte Gemeinden unter der Lupe

 
4 Männer
Keine Rezepte, aber mutmachende Erfahrungen: Referent Thomas Härry mit den FIGS-Verantwortlichen Fritz Peyer, Urs Schmid und Reinhold Scharnowski in Hunzenschwil (von links)
Christliche Gemeinden können sich auf viele Weisen erneuern. Beziehungen, das Bewusstsein, von Jesus gesandt zu sein, und glaubwürdige Leiter sind zentrale Faktoren. Der dritte Forschungstag des Forschungsinstituts Gemeinde Schweiz (FIGS), der am 8. Mai in Hunzenschwil bei Aarau stattfand, wies über bekannte Horizonte hinaus.

Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie an der Universität Zürich, plädierte in einem Vortrag für eine Gemeindeforschung, die nicht voraussetzt, was Gemeinde ist, sondern «ohne Scheuklappen über konfessionelle und denominationelle Grenzen hinweg nach möglichen Formen gelebten Glaubens fragt». Ohne seine Sympathie für missionale Ansätze zu verheimlichen, stellte sie Kunz doch auch in Frage. Und forderte die 75 Teilnehmenden auf, unvoreingenommen hinzusehen.

Erneuerung konkret
Studenten des Instituts für Gemeindebau und Weltmission IGW in Zürich haben dies getan und in Zusammenarbeit mit FIGS Veränderungsprozesse in sieben Gemeinden empirisch untersucht. Am Forschungstag präsentierten sie erste Ergebnisse. Nachmittags schilderten Leiter aus fünf dieser Gemeinden in Workshops Erfahrungen: Thomas Härry, Pfarrer der Aarauer Minoritätsgemeinde, Paul Bruderer von der Chrischona-Gemeinde Frauenfeld, Reto Pelli von der Rapperswiler Kirche im Prisma, Hansjörg Herren (Kirchgemeinde Gossau ZH) und Stefan Fuchser von der «Eglise ouverte» in Genf.

 
Thomas Härry
Erneuerte Beziehungskultur: Thomas Härry am FIGS-Forschungstag (Quelle: FIGS)
Multikulti - kein Spaziergang

In der Rhonestadt, in einem Quartier mit 50 Prozent Ausländern, hat es die Chrischona-Stadtmission gewagt, Überseer mit ihren Eigenarten und Nöten einzuschliessen, mit dem Traum, dass Integration gelinge. Fuchser erwähnte die Hürden für die multikulturelle Öffnung. Bis man versteht, was man hört, muss man üben und sich immer wieder überwinden. «Integration wird nur möglich, wenn alle einen Schritt aufeinander zu machen.» Die Schweizer lernten (gegen innere und andere Widerstände) fremde Kulturen wertschätzen; gemeinsames Essen trug dazu bei. Ausländer seien sofort als vollwertige Gemeindeglieder anzunehmen und in die Gemeinde-Familie einzuschliessen, sagte Fuchser.

Der Gottesdienst findet dort statt, wo die Menschen leben, nicht fern ihrem Quartier. Damit der Prozess nicht an Widerständen scheitert, muss die Leitung klar wissen, was sie will, und es mitteilen. Lieder aus verschiedenen Ländern werden gesungen; sie sind einzuführen und zu erläutern. «Über allen kulturellen Fragen muss ein geistliches Ziel stehen», betonte der gebürtige Berner mit Verweis auf Epheser 2.

Webseite der Eglise ouverte de Genève

Neufokussierung auf Nachbarschaft
«Immer ist von dem, was wir träumen, schon etwas da», sagte Hansjörg Herren aus Gossau ZH. Die Kirchgemeinde, die 400 freiwillige Mitarbeitende zählt, will vermehrt für die Menschen in den 12 Dorfteilen und Weilern da sein und ihren Bedürfnissen im Alltag entsprechen. Dabei will man von bekannten Gaben und Talenten der Gemeindeglieder ausgehen. «Wir wollen hinsehen, wo etwas Gutes wächst, und dies fördern.» Laut Hansjörg Herren, während neun Jahren für Jugendarbeit angestellt, wurde den Leitern bewusst, dass die ersehnte Veränderung sich nicht «top down» managen und so machen lässt. Doch die Verantwortlichen hätten den Boden dafür zu bereiten, «dass es gut kommen kann».

Dem Ja zur Quartierarbeit ging ein mehrjähriger Prozess in der Kerngemeinde voran. In Bibelworten erkannten die Beteiligten mehrfach Gottes konkrete Weisung (Hesekiel 37!). «Wir merkten: Wir müssen Leben teilen. Wir wollen mit den Schwachen unterwegs sein.» Acht Grundsätze und sechs Werte wurden als Kompass formuliert.

Die sechs Werte der Kirchgemeinde Gossau
Kurzfilm «imdoki»

 
Paul Bruderer und Hansjörg Herren
«Wir wussten nicht, wohin die Reise geht»: Hansjörg Herren über den Gossauer Prozess. Links Paul Bruderer
«Erneuerte Beziehungskultur»

Was macht eine Gemeinde einladend? Der Aarauer Pfarrer Thomas Härry befasste sich in einem Referat am Vormittag mit dem Miteinander der Christen und der Rolle von Leitern im Veränderungsprozess. Nachhaltige Veränderung gibt es nicht ohne eine «solide biblische Verkündigung, durch die Menschen absichtsvoll zu Gottes Zielsetzungen hin geführt werden». Verkündigung sei «das wichtigste Führungsinstrument eines Pastors», zitierte Härry den US-Theologen Vic Gordon. Insgesamt, unterstrich der Referent, muss eine Gemeinde, die sich wandeln will, bei den Beziehungen beginnen, nicht mit besseren Veranstaltungen.

Junge, postmodern geprägte Menschen sind viel eher bereit, so die Erfahrung in Aarau, in einer Gemeinde mitzutun, wenn sie «ermutigende Beziehungen» erleben. Auf ein von Vergebung, Annahme und Wertschätzung geprägtes Klima drangen schon die Verfasser der neutestamentlichen Briefe. Wo dieses fehle, werde in Zukunft kaum lebendige Kirche zu bauen sein, bemerkte Härry. Leiter hätten den Zusammenhang zwischen missionarischer Ausstrahlung und der internen Beziehungskultur aufzuzeigen - und bei sich selbst zu beginnen.

Würzigen Tee, bitte!

Viel Gesprächsstoff bot auch der erste Vortrag des Forschungstags. Ralph Kunz machte darin klar, dass die eigenen kulturellen Vorstellungen von Gemeinde nicht massgebend sein dürfen; doch handle auch vermessen, wer alles neu erfinden wolle. Freikirchen und Reformierte sitzen im selben Boot; Weltevangelisationsphantasien und anderseits ein Selbstverkleinerungskomplex sind zu überwinden.

Die Postmoderne ist unberechenbar. Die Gemeinde muss sich fragen, wo sie ist «in einer Gesellschaft, in der die meisten ständig in Bewegung sind und doch nicht recht vom Fleck kommen?» Herrscht der Individualismus vor, gilt verbindliches Leben in Gemeinschaft als Zumutung. Diese Zumutung präsentieren jedoch die meisten Gemeinden in einer Weise, so Kunz mit einem Vergleich, wie Spitäler Pfefferminztee servieren: lauwarm und ungezuckert. Dabei wollten heute manche heissen, würzigen Tee. Daher: «Soll man stärker auf Erlebnismilieus eingehen? Müssen wir uns cooler geben?»

 
Stefan Fuchser und Reto Pelli
Langwierige Öffnung hin zu Migranten: Stefan Fuchser berichtete über die Genfer Erfahrungen. Links Reto Pelli
Entwicklung so - oder so

Aus der Dynamik dreier reformierter Kirchgemeinden leitet Ralph Kunz ab, dass nicht nur eine ausstrahlende Mitarbeitergemeinde mit kreativer, initiativer Führung wie die Basler Gellertkirche wachsen kann. Auch eine Gemeinde ohne starke Mitte, aber mit vielen Anschlussstellen wie Pfäffikon ZH könne sich gut entwickeln. Ebenso eine Gemeinde, die «Menschen mit in die Sendung nimmt», eine Gemeinde, die «niemand ausschliesst oder bewusst diejenigen sucht, die ausgeschlossen werden». Dies kennzeichnet laut Kunz die Mitenandgemeinde in der Kleinbasler Matthäuskirche, wo sich Menschen aus 30 Nationen versammeln. Angesichts dieser Vielfalt hat sich die Gemeindeforschung mit Wertungen zurückzuhalten. Die anregende Tagung schloss mit einem von FIGS-Sekretär Reinhold Scharnowski moderierten Referentenpodium.

Zum Thema:
Webseite des Forschungsinstituts Gemeinde Schweiz FIGS

Mehr zum Vortrag von Ralph Kunz

Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch
Datum: 11.05.2010

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